1C_587/2008: unzulässige Beeinflussung einer Abstimmung durch verzögerte und verfälschte Darstellung (amtl. Publ.)

Das Ergeb­nis ein­er Abstim­mung kann durch eine behördliche Bee­in­flus­sung der Stimm­berechtigten bee­in­flusst wer­den, zB durch Erläuterun­gen von Gemein­de­be­hör­den bei Gemein­de­v­er­samm­lun­gen. Behör­den sind dabei 

zur Objek­tiv­ität verpflichtet, sie dür­fen Zweck und Trag­weite ein­er Vor­lage nicht falsch darstellen. Die Behörde muss sich nicht mit jed­er Einzel­heit ein­er Vor­lage befassen und nicht alle denkbaren Ein­wen­dun­gen, welche gegen eine Vor­lage erhoben wer­den kön­nen, erwäh­nen. Das Gebot der Sach­lichkeit ver­bi­etet indessen, in den Erk­lärun­gen für den Entscheid des Stimm­bürg­ers wichtige Ele­mente zu unter­drück­en oder Argu­mente von geg­ner­ischen Ref­er­en­dums- oder Ini­tia­tivkomi­tees falsch wiederzugeben.”

Im vor­liegend vom BGer beurteil­ten Fall war eine Abstim­mung über eine Gemein­deini­tia­tive (der Gemeinde Werthen­stein, über die Auss­chei­dung ein­er Abbau- und Ablagerungszone im Gebi­et Schwan­den) unter Umstän­den erfol­gt, die es nicht erlaubten, dass der Wille der Stimm­berechtigten zuver­läs­sig gebildet und unver­fälscht zum Aus­druck gebracht wer­den konnte:

Eine gesamthafte Betra­ch­tung der Sit­u­a­tion anlässlich der Gemein­de­v­er­samm­lung zeigt, dass die Ini­tianten der Gemein­deini­tia­tive mit der Präsen­ta­tion des Dien­st­barkeitsver­trages für eine aus­ge­sproch­ene Über­raschung sorgten. Der Ver­trag, vom Beschw­erde­führer 2 ver­ständlicher­weise als “deus ex machi­na” beze­ich­net, ist erst am Nach­mit­tag dem Gemein­der­at aus­ge­händigt und am Abend den Stimm­berechtigten erst­mals bekan­nt­gemacht wor­den. Ver­schiedene Stimm­berechtigte gaben ihrem Erstaunen über den Zeit­punkt des Abschlusses und der Präsen­ta­tion des Ver­trages Aus­druck. Es ist mit den Grundzü­gen der demokratis­chen Mei­n­ungs­bil­dung zwar vere­in­bar, einzelne Argu­mente aus tak­tis­chen Grün­den zurück­zuhal­ten und im best erscheinen­den Moment in die Diskus­sion einzubrin­gen. Das Tak­tieren find­et allerd­ings seine Gren­zen, wo die Fair­ness der Auseinan­der­set­zung nicht gewahrt ist und der umfassende Prozess der Mei­n­ungs­bil­dung der Stimm­berechtigten beein­trächtigt wird. Das kann zutr­e­f­fen, wenn in einem späten Zeit­punkt nicht bloss per­sön­liche Mei­n­un­gen und Ein­schätzun­gen vorge­bracht, son­dern mass­ge­bliche Doku­mente ins Spiel gebracht wer­den, die ein­er Prü­fung bedürften. Für behördliche Unter­la­gen sieht das Stimm­rechts­ge­setz des Kan­tons Luzern (SRL Nr. 10) in § 22 Abs. 1 gar vor, dass die ein­er Abstim­mungsvor­lage zugrunde liegen­den Akten während zwei Wochen einge­se­hen wer­den kön­nen. Im vor­liegen­den Fall hat­ten die Stimm­berechtigten in kein­er Weise die Möglichkeit, den Dien­st­barkeitsver­trag einzuse­hen und zu prüfen. Gemäss Pro­tokoll ist der Ver­trag nicht vorge­le­sen wor­den. Damit fiel eine zuver­läs­sige Wil­lens­bil­dung von vorn­here­in schw­er.
Auss­chlaggeben­des Gewicht kommt in der vor­liegen­den Kon­stel­la­tion dem Umstand zu, dass der für die Abstim­mung über die Gemein­deini­tia­tive wichtige Dien­st­barkeitsver­trag, wie oben dargelegt, in einem äusserst späten Zeit­punkt präsen­tiert und unzutr­e­f­fend dargestellt wor­den ist: Die Aus­sage über die Zusicherung bes­timmter Wasser­men­gen war offen­sichtlich unwahr und irreführend. In der konkreten Sit­u­a­tion kon­nten die Stimm­berechtigten die unzutr­e­f­fend­en Angaben über den Dien­st­barkeitsver­trag in kein­er Weise mehr über­prüfen. Damit sind sie irrege­führt und in ihrer Abstim­mungs­frei­heit beein­trächtigt wor­den.
Überdies lässt der Ver­hand­lungsver­lauf eine gewisse Verun­sicherung erken­nen. Die Aus­führun­gen des Gemein­de­präsi­den­ten zeigen, dass der Gemein­der­at den Dien­st­barkeitsver­trag offen­bar noch nicht prüfen und dessen Trag­weite wed­er im Hin­blick auf die Abstim­mung über die Gemein­deini­tia­tive noch mit Bezug auf eine allfäl­lige Auss­chei­dung von Abbau­zo­nen abschätzen kon­nte. Der Gemein­de­präsi­dent war daher nicht in der Lage, die mit der neuen Kon­stel­la­tion kon­fron­tierten Stimm­berechtigten über allfäl­lige Kon­se­quen­zen aufzuk­lären und sein­er Infor­ma­tion­spflicht gegenüber den Stimm­bürg­ern in ein­er der Sit­u­a­tion angemesse­nen Weise nachzukom­men. Von daher hätte geprüft wer­den kön­nen, das Geschäft bis zur Klärung der neuen Sit­u­a­tion auszusetzen.”