6B_490/2010: Anrechnung vorsorglicher jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahme auf Freiheitsentzug (amtl. Publ.)

Mit dem zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 11. Jan­u­ar 2011 (6B_490/2010) hat das Bun­des­gericht entsch­ieden, dass eine vor­sor­glich ange­ord­nete Schutz­mass­nahme nicht automa­tisch auf einen Frei­heit­sentzug anzurech­nen ist. Der jugendliche Täter war in ein­er geschlosse­nen Ein­rich­tung unterge­bracht wor­den (vgl. 15 Abs. 1 und 2 JStG). Die Vorin­stanz, das Oberg­ericht ZH, hat­te diese vor­sor­gliche Unter­bringung im Rah­men der Strafaus­fäl­lung auf die aus­ge­fällte Strafe angerech­net. Die Jugend­staat­san­waltschaft ZH erhob dage­gen Beschw­erde, die gut­ge­heis­sen wurde.

Das Bun­des­gericht ver­wirft die Ansicht der Vorin­stanz, dass vor­sor­gliche Schutz­mass­nah­men als Unter­suchung­shaft im Sinne von Art. 110 Abs. 7 StGB zu ver­ste­hen seien, weshalb Art. 51 StGB (Anrech­nung von Unter­suchung­shaft) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 JStG anzuwen­den und die vor­sor­gliche Mass­nahme auf den Frei­heit­sentzug anzurech­nen sei.

1.6.1 […] Das Jugend­strafrecht nimmt im Gegen­satz zum Strafge­set­zbuch eine klare Unter­schei­dung zwis­chen vor­sor­glichen Schutz­mass­nah­men (Art. 5 JStG und Art. 26 Abs. 1 lit. c JSt­PO) und der Unter­suchung­shaft (Art. 6 aJStG bzw. Art. 26 Abs. 1 lit. b JSt­PO) vor. Im Sinne ein­er ulti­ma ratio darf die Unter­suchung­shaft nur ange­ord­net wer­den, wenn ihr Zweck nicht durch andere Mass­nah­men erre­icht wer­den kann (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 aJStG bzw. Art. 27 Abs. 1 JSt­PO). Es wider­spricht daher der Geset­zessys­tem­atik, vor allem aber Sinn und Zweck des Jugend­strafrechts, Unter­suchung­shaft und vor­sor­gliche Schutz­mass­nah­men im vor­liegen­den Zusam­men­hang gle­ich zu behandeln.

Mit Ver­weis auf Art. 32 JStG (Zusam­men­tr­e­f­fen von Schutz­mass­nah­men und Frei­heit­sentzug), der auch bei vor­sor­glich ange­ord­neten Schutz­mass­nah­men anwend­bar ist, hält das Bun­des­gericht fest:

1.6.2 […] Aus Abs. 3 ergibt sich somit, dass die aufge­hobene Unter­bringung nicht automa­tisch an den Frei­heit­sentzug anzurech­nen ist, wenn der Mass­nah­mezweck nicht erre­icht wor­den ist. Es liegt im Ermessen der urteilen­den Behörde, ob sie den Vol­lzug des ganzen oder nur eines Teils des Frei­heit­sentzugs anord­nen oder aber ganz darauf verzicht­en möchte […]. Art. 32 Abs. 3 JStG kommt nur zum Tra­gen, wenn der neben der Mass­nahme aus­ge­sproch­ene Frei­heit­sentzug nicht bere­its erstanden ist. Die Beschw­erde­führerin weist in diesem Zusam­men­hang darauf hin, dass die im Jugend­strafrecht ver­gle­ich­sweise kurzen Frei­heit­sentzüge durch die Anrech­nung vor­sor­glich­er Schutz­mass­nah­men im Zeit­punkt des Stra­furteils regelmäs­sig bere­its abge­golten sind […] Mit Blick auf das dual­is­tis­che Sys­tem des neuen Jugend­strafrechts erscheint es sin­nvoll, den Zeit­punkt der Anrech­nung ein­er Mass­nahme an den aus­ge­fäll­ten Frei­heit­sentzug auch im Jugend­strafrecht dif­feren­ziert auszugestal­ten. Mass­gebend soll dabei eben­falls sein, ob der Richter im Haup­turteil die im Unter­suchungssta­di­um vor­sor­glich ange­ord­nete Mass­nahme unverän­dert weit­er­führt, ändert oder ganz aufhebt. Nur im Falle ihrer Änderung oder Aufhe­bung ist im Sachurteil über die Anrech­nung zu befind­en, anson­sten erst nach deren Beendigung.

1.7 […] Die vor­sor­gliche sowie die anschliessende defin­i­tive geschlossene Unter­bringung sind daher bei nicht erre­ichtem Mass­nah­meziel gemäss Art. 32 Abs. 3 JStG erst im Zeit­punkt der Beendi­gung der Mass­nahme an die aus­ge­sproch­ene Frei­heit­sentziehung anzurech­nen. Wird der Zweck der Mass­nahme hinge­gen erre­icht, erfol­gt keine Anrech­nung, da der Frei­heit­sentzug nicht mehr vol­l­zo­gen wird (Art. 32 Abs. 2 JStG).