1B_277/2011: Sicherheitshaft und Fluchtgefahr (amtl. Publ.)

Der Haft­grund der Flucht­ge­fahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO war Gegen­stand des Urteils 1B_277/2011 vom 28. Juni 2011, das zur Pub­lika­tion in der amtlichen Samm­lung vorge­se­hen ist. Das Bun­des­gericht bestätigte die Vorin­stanz, welche den Haft­grund bejaht hat­te, weil der — ein­er Tötung verdächtigte und als “reisege­wandt” eingeschätzte — Beschw­erde­führer vor sein­er Haf­tent­las­sung ein­er ambu­lanten Heil­be­hand­lung nach Art. 63 StGB zur sucht­spez­i­fis­chen Behand­lung sein­er früheren Alko­ho­lab­hängigkeit bedürfe.

Laut Gutacht­en neige der Beschw­erde­führer unter Alko­hole­in­fluss zu inadäquat­en Kon­flik­tlö­sun­gen und psy­cho­genen Kurz­schlussreak­tio­nen; zudem weise er akzen­tu­ierte narzis­stis­che Per­sön­lichkeit­szüge auf, die gewisse psy­chis­che Auf­fäl­ligkeit­en offen­barten. Diese in sein­er psy­chis­chen Angeschla­gen­heit wurzel­nde Unberechen­barkeit und die dro­hende hohe Frei­heitsstrafe seien gewichtige Indizien für das Vor­liegen von Flucht­ge­fahr. Bei dieser Sach­lage lasse sich der Flucht­ge­fahr nicht mit allfäl­li­gen straf­prozes­sualen Ersatz­mass­nah­men nach Art. 237 StPO (wie z.B. eine Gesprächs- und Anta­bus­ther­a­pie) aus­re­ichend begegnen.

Zum Haft­grund der Flucht­ge­fahr, mit der die Anwe­sen­heit der beschuldigten Per­son im Ver­fahren gesichert wer­den soll, ver­weist das Bun­des­gericht auf frühere Urteile:

3.3 Nach der Recht­sprechung des Bun­des­gerichts braucht es für die Annahme von Flucht­ge­fahr eine gewisse Wahrschein­lichkeit, dass sich die beschuldigte Per­son, wenn sie in Frei­heit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vorder­grund ste­ht dabei eine mögliche Flucht ins Aus­land, denkbar ist jedoch auch ein Unter­tauchen im Inland. Bei der Bew­er­tung, ob Flucht­ge­fahr beste­ht, sind die gesamten konkreten Ver­hält­nisse zu berück­sichti­gen. Es müssen Gründe beste­hen, die eine Flucht nicht nur als möglich, son­dern als wahrschein­lich erscheinen lassen. Die Schwere der dro­hen­den Strafe darf als ein Indiz für Flucht­ge­fahr gew­ertet wer­den, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haft­grund zu beja­hen. Miteinzubeziehen sind die famil­iären Bindun­gen, die beru­fliche und finanzielle Sit­u­a­tion und die Kon­tak­te zum Aus­land. Auch psy­chis­che Auf­fäl­ligkeit­en, die auf eine beson­dere Nei­gung zu Impul­saus­brüchen bzw. Kurz­schlusshand­lun­gen schliessen lassen, kön­nen eine Flucht­nei­gung erhöhen (BGE 123 I 268 E. 2e S. 271 ff.; Urteil 1B_172/2010 vom 25. Okto­ber 2010 E. 3.3).

Fern­er hält das Bun­des­gericht fest, dass 

3.4 […] im Haft­prü­fungsver­fahren ent­ge­gen den Aus­führun­gen in der Beschw­erde die Möglichkeit der bed­ingten Ent­las­sung nach zwei Drit­teln der Strafe gemäss Art. 86 Abs. 1 StGB prax­is­gemäss nicht zu berück­sichti­gen ist (vgl. Urteil des Bun­des­gerichts 1B_3/2010 vom 25. Jan­u­ar 2010).