5A_655/2010: Eigentumsfreiheitsklage; Rechtsmissbrauch, Gut- und Bösgläubigkeit

Bei der Beurteilung ein­er Eigen­tums­frei­heit­sklage gemäss Art. 641 ZGB hat sich das Bun­des­gericht im Urteil 5A_655/2010 vom 5. Mai 2011 mit der Rechtsmiss­bräuch­lichkeit eines Ver­hal­tens sowie mit der Gut- und Bös­gläu­bigkeit auseinandergesetzt. 

X ist Eigen­tümerin eines Grund­stücks; bei der Erstel­lung eines Anbaus auf seinem benach­barten Grund­stück liess sich Y zahlre­iche Eigen­tum­süber­schre­itun­gen, ins­beson­dere durch einen Über­bau aus Beton, zuschulden kom­men. In zweit­er Instanz wurde die Klage von X mit dem Antrag, Y auf Ent­fer­nung des Über­baus zu verurteilen, abgewiesen, während die Widerk­lage von Y gut­ge­heis­sen wurde.

Die Vorin­stanz war davon aus­ge­gan­gen, dass der Aufwand, der für die Ent­fer­nung des Betons erforder­lich wäre, in keinem „auch nur ansatzweise vernün­fti­gen Ver­hält­nis“ zu dem mit der Klage begehrten Ergeb­nis ste­he. Das Bun­des­gericht ver­wirft diese Argu­men­ta­tion, wonach der auf ihrem Grund­stück ange­brachte Beton für die Beschw­erde­führerin gar keinen ersichtlichen Nachteil darstelle:

2.1 […] Zwar mag zutr­e­f­fen, dass die Beschw­erde­führerin aktuell von der ungerecht­fer­tigten Ein­wirkung auf ihr Grund­stück nicht beson­ders betrof­fen ist. Das ändert aber nichts daran, dass dieses Inter­esse spätestens dann aktuell wird, wenn sie auf ihrem Grund­stück am fraglichen Ort eine unterirdis­che Baute zu erstellen beab­sichtigt […]. Abge­se­hen davon kann der Beschw­erde­führerin nicht zuge­mutet wer­den, mit der Durch­set­zung ihres berechtigten und an sich unver­jährbaren Abwehranspruchs (BGE 83 II 193 E. 2 S. 198) zuzuwarten, zumal sie sich nach ein­er länger andauern­den unange­focht­en gedulde­ten Ein­wirkung des Beschw­erdegeg­n­ers unter Umstän­den das Ver­bot des Rechtsmiss­brauchs ent­ge­gen­hal­ten lassen muss (vgl. dazu: Urteil 5A_40/2009 vom 14. Mai 2009 E. 3.3 […]). Der Vorin­stanz ist unter dem Gesicht­spunkt von Art. 9 BV insoweit nicht beizupflicht­en, als sie jeglich­es Inter­esse auf­seit­en der Beschw­erde­führerin auss­chliesst. Denn die Vertei­di­gung ihres Eigen­tums stellt ein legit­imes und fol­glich aus­re­ichen­des Inter­esse dar.

Für den Anspruch auf Besei­t­i­gung der Eigen­tumsstörung, der sich gegen jede Art der Ein­wirkung richtet, ist ein miss­bräuch­lich­es Ver­hal­ten laut Bun­des­gericht irrelevant: 

2.2.1 […] Ob der Nachteil im Ver­hält­nis zu den Kosten, die der Stör­er zu sein­er Besei­t­i­gung aufwen­den muss, als ger­ingfügig anzuse­hen ist, spielt dabei unter Vor­be­halt des Rechtsmiss­brauchs grund­sät­zlich keine Rolle, lässt doch Art. 641 ZGB für der­ar­tige Abwä­gun­gen keinen Raum (vgl. BGE 68 II 369 E. 4 […]). Geht es wie hier um einen Anspruch auf ein Tun bzw. Unter­lassen, betra­chtet die Lehre ein krass­es Missver­hält­nis der Inter­essen bzw. ein fehlen­des oder ungenü­gen­des Inter­esse eines an sich zuste­hen­den Rechts, als einen möglichen Rechtsmiss­brauch­statbe­stand […]. Allerd­ings ist offen­bar­er Rechtsmiss­brauch nur mit grösster Zurück­hal­tung anzunehmen und im Zweifel das formelle Recht zu schützen […]; je mehr das zu schützende formelle Recht absolute Gel­tung beansprucht, desto restrik­tiv­er muss Rechtsmiss­brauch angenom­men wer­den. Das gilt ins­beson­dere für das absolute Recht auf Eigentum; […].

Das Bun­des­gericht stützt dage­gen das Vor­brin­gen der Beschw­erde­führerin, dass bei der Prü­fung der Rechtsmiss­bräuch­lichkeit eines Ver­hal­tens auch zu fra­gen ist, ob und inwieweit das Ver­hal­ten der Gegen­partei sich auf deren Recht auswirkt, rechtsmiss­bräuch­lich­es Ver­hal­ten der anderen Partei zu rügen:

2.2.2 […] Nach der im öffentlichen Recht vertrete­nen Auf­fas­sung kann sich z.B. auch ein Bauherr auf den Grund­satz der Ver­hält­nis­mäs­sigkeit berufen, der nicht gut­gläu­big gehan­delt hat (BGE 132 II 21 E. 6.4 S. 39 f.). Diese Regel, die im Ver­hält­nis zwis­chen der öffentlichen Hand und Pri­vat­en Gel­tung beansprucht, lässt sich indes nicht ohne Weit­eres auf das vom Pri­va­trecht beherrschte Ver­hält­nis zwis­chen zwei Pri­vat­en über­tra­gen. Im Pri­va­trecht ver­weigert die Lehre vielmehr dem Schuld­ner die Einrede der unzuläs­si­gen Recht­sausübung aus dem Gesicht­spunkt der Beru­fung auf eigenes Unrecht, wenn zurechen­bare Nach­läs­sigkeit die Pflichtver­let­zung mit­be­wirkt hat […] oder wenn wider­rechtlich­es Ver­hal­ten aus­nahm­sweise ein­er Recht­sausübung zugrunde liegt […].

Danach durfte sich der Beschw­erdegeg­n­er sich nicht auf ein rechtsmiss­bräuch­lich­es Ver­hal­ten der Beschw­erde­führerin berufen, weil er selb­st bös­gläu­big war (vgl. Art. 3 Abs. 2 ZGB):

2.2.3 […] Abge­se­hen davon darf als All­ge­mein­wis­sen voraus­ge­set­zt wer­den, dass ein Nach­bar­grund­stück nicht ohne rechtliche Grund­lage für eigene Zwecke ver­wen­det wer­den kann. Überdies war dem Beschw­erdegeg­n­er […] bekan­nt, dass der Beton wegen der vom Architek­ten gewählten Meth­ode der Beton­hin­ter­fül­lung auf das Grund­stück der Beschw­erde­führerin hinein­ragt. […] Der Architekt stand in einem Auf­tragsver­hält­nis und damit in gewis­sem Masse in einem Abhängigkeitsver­hält­nis zum Beschw­erdegeg­n­er; mit Bezug auf die Bauar­beit­en war der Architekt gle­ich­sam dessen Hil­f­sper­son. Damit ist offen­sichtlich, dass der Beschw­erdegeg­n­er auf­grund ein­er Auskun­ft, die ihm eine ihm zuzuord­nende Hil­f­sper­son erteilte, von vorn­here­in keine Ver­trauen­spo­si­tion erwer­ben konnte.Mit dem Zugeständ­nis, den Beton im Bedarfs­fall zukün­ftig ein­mal auf eigene Kosten zu beseit­i­gen, räumt der Beschw­erdegeg­n­er im Ergeb­nis ein, es sei ihm von Anfang an klar gewe­sen, dass er eigentlich nicht habe auf das Grund­stück der Beschw­erde­führerin ein­wirken dürfen. 

Zusam­men­fassend hält das Bun­des­gericht fest, dass die Vorin­stanz willkür­lich den guten Glauben des Beschw­erdegeg­n­ers angenom­men hat. Weil dieser bös­gläu­big war, durfte er sich nicht auf den Rechtsmiss­brauch der Beschw­erde­führerin berufen. Auf­grund dieser Ver­let­zung von Art. 9 BV wurde die gegen das Urteil als „Beschw­erde in Zivil­sachen“ ein­gere­ichte Eingabe als sub­sidiäre Ver­fas­sungs­beschw­erde ent­ge­gengenom­men und gutgeheissen.