6B_1031–1035/2010: Begünstigung; Eventualvorsatz und rechtfertigender Notstand

Im Urteil 6B_1031–1035/2010 vom 1. Juni 2011 äussert sich das Bun­des­gericht zur Voll­streck­ungs­begün­s­ti­gung durch Behör­den­mit­glieder oder Beamte sowie zum erforder­lichen (Eventual-)Vorsatz und ein­er möglichen Recht­fer­ti­gung wegen Not­stands in einem Fall mit ungewöhn­lichem Sachverhalt.

Nach­dem er vier Mal den Feuer­wehrübun­gen unentschuldigt fer­nge­blieben war, wurde X vom zuständi­gen Gemein­der­at zu ein­er Busse verurteilt. In der zweit­en Mah­nung wurde er darauf hingewiesen, dass ihm bei Nicht­bezahlung der Wasserzu­fluss ges­per­rt wer­den könne. X rief daraufhin die Gemein­deam­män­nin an und teilte mit, dass er nicht zur Zahlung gewil­lt sei und „nicht wie andere nur reden oder eine Show abziehen, son­dern gle­ich diesen Saustall in der Gemeinde aufräu­men werde“. Bei ein­er anschliessenden Haus­durch­suchung wur­den (ver­botene) Waf­fen und gefährliche Gegen­stände gefun­den. Kurz darauf beschloss der fün­fköp­fige Gemein­der­at, dass „auf­grund der beson­deren Vorkomm­nisse die Busse­naus­fäl­lung annul­liert“ wird. Die Beschw­er­den gegen die deshalb aus­ge­sproch­enen Strafen wegen Begün­s­ti­gung wies das Bun­des­gericht ab (vere­inigte Verfahren).

Die fünf Beschw­erde­führer bracht­en vor, es liege keine Voll­streck­ungs­begün­s­ti­gung gemäss Art. 305 Abs. 1 StGB vor, wenn vom Vol­lzug ein­er Busse abge­se­hen werde. Das Bun­des­gericht ist ander­er Auffassung:

2.2 […] Eine sog. Voll­streck­ungs­begün­s­ti­gung kann nicht nur durch Über­nahme der Strafe, namentlich durch Ver­büs­sung ein­er Frei­heitsstrafe durch eine andere Per­son als den Verurteil­ten, began­gen wer­den, son­dern auch etwa dadurch, dass die für den Vol­lzug der Sank­tion zuständi­gen Behör­den­mit­glieder oder Beamten vom Vol­lzug der recht­mäs­sig aus­ge­fäll­ten Strafe abse­hen. […]

Zudem rügten die Beschw­erde­führer, dass es am Vor­satz fehle, weil ihnen nicht bewusst gewe­sen sei, durch ihr Ver­hal­ten eine Begün­s­ti­gung zu bege­hen, und weil sie bloss Tat­mit­tler bzw. wil­len­lose Werkzeuge in der Hand von X gewe­sen seien und auf­grund der von diesem geäusserten schw­eren Dro­hung gar nicht nach ihrem freien Willen gehan­delt hät­ten. Diese Argu­men­ta­tion wird vom Bun­des­gericht nicht geteilt:

2.4.1 […] Nicht zum Vor­satz gehört die Ken­nt­nis der Straf­barkeit (BGE 107 IV 205 E. 3). Eben­falls nicht zum Vor­satz gehört grund­sät­zlich das Bewusst­sein der Rechtswidrigkeit (BGE 115 IV 219 E. 4 mit Hin­weisen). Wer sein Ver­hal­ten irrtüm­lich für recht­mäs­sig hält, erliegt allen­falls einem Irrtum über die Rechtswidrigkeit (Art. 21 StGB), welch­er den Vor­satz nicht berührt.
2.4.2 Der Ein­wand der Beschw­erde­führer, sie hät­ten in Anbe­tra­cht der von X geäusserten Dro­hung nicht gemäss ihrem freien Willen gehan­delt, berührt den Vor­satz nicht. Vor­satz set­zt nicht voraus, dass der Täter seinen Willen frei gebildet und betätigt hat. Dies­bezügliche Ein­schränkun­gen kön­nen allen­falls bei der Strafzumes­sung berück­sichtigt wer­den. Dies ergibt sich unter anderem aus Art. 48 lit. a Ziff. 3 StGB, wonach das Gericht die Strafe mildert, wenn der Täter unter dem Ein­druck ein­er schw­eren Dro­hung gehan­delt hat. Unbe­grün­det ist daher auch der Ein­wand der Beschw­erde­führer, dass sie man­gels eines freien Wil­lens bloss wil­len­lose Werkzeuge in der Hand von Z gewe­sen seien […].

Der Ein­wand der Beschw­erde­führer, im Übri­gen liege ein recht­fer­ti­gen­der Not­stand vor, wird vom Bun­des­gericht eben­falls zurückgewiesen:

3.2.2 Der Recht­fer­ti­gungs­grund des recht­fer­ti­gen­den Not­stands im Sinne von Art. 17 StGB set­zt voraus, dass die Gefahr nicht anders abwend­bar war. Diese Voraus­set­zung ist hier nicht erfüllt. Wohl war die Annul­lierung der Busse das ein­fach­ste und sich­er­ste Mit­tel, um die Gefahr endgültig abzuwen­den. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Gefahr nicht auch anders hätte abgewen­det wer­den kön­nen. Die in der zweit­en Mah­nung […] enthal­tene Ankündi­gung, bei Nicht­bezahlung der Busse werde eine Sper­rung des Wasserzu­flusses geprüft, war unstre­it­ig unzuläs­sig […]. Die Sper­rung des Wasserzu­flusses kann gemäss dem mass­geben­den Regle­ment der Gemeinde bei Verzug mit der Zahlung des Wasserzins­es in Betra­cht kom­men, offen­sichtlich aber nicht im Falle der Nicht­bezahlung ein­er Busse, beispiel­sweise wegen unentschuldigten Fern­bleibens von Feuer­wehrübun­gen. […] Es hätte nahe gele­gen, die Ankündi­gung ein­er allfäl­li­gen Sper­rung des Wasserzu­flusses schriftlich zurück­zunehmen und gegenüber X klarzustellen, dass die Nicht­bezahlung der Busse nicht mit ein­er solchen Mass­nahme geah­n­det wer­den kann. […]

Schliesslich haben die Beschw­erde­führer aus­drück­lich fest­ge­hal­ten, dass sie sich nicht zum Straf­mass äussern, weil sie Freis­pruch beantra­gen, und nicht gel­tend gemacht, dass die Strafe zu hoch bzw. das Vor­liegen von Strafmilderungs­grün­den zu Unrecht verneint wor­den sei:

4. […] Daher ist im vor­liegen­den Ver­fahren nicht zu prüfen, ob den Beschw­erde­führern allen­falls der Strafmilderungs­grund im Sinne von Art. 48 lit. a Ziff. 3 StGB hätte zuge­bil­ligt wer­den müssen, wonach das Gericht die Strafe mildert, wenn der Täter unter dem Ein­druck ein­er schw­eren Dro­hung gehan­delt hat. Zwar wen­det das Bun­des­gericht das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch gilt dies nur im Rah­men der in der Beschw­erde gestell­ten Begehren. Wird allein der Schuld­spruch ange­focht­en, so hat das Bun­des­gericht im Falle von dessen Bestä­ti­gung nicht von Amtes wegen zu prüfen, ob die von der Vorin­stanz aus­ge­fällte Sank­tion vor Bun­desrecht stand­hält.