5E_1/2011: Interkantonal zuständige Vormundschaftsbehörde bei Weiterführung einer Beistandschaft; freiwilliger Heimeintritt und Wohnsitz bei Heimaufenthalt (amtl. Publ.)

Der Kan­ton St. Gallen und der Kan­ton Thur­gau waren sich uneins über die interkan­tonale Zuständigkeit in ein­er Vor­mund­schaftssache, in der es um die Weit­er­führung ein­er sog. kom­binierten Bei­s­tand­schaft, d.h. ein­er Vertre­tungs- und Ver­wal­tungs­bei­s­tand­schaft, ging. Strit­tig waren die bei­den Fra­gen, ob (1.) die ver­beistän­dete Per­son in einem Alters- und Pflege­heim unterge­bracht wurde oder frei­willig in das Heim einge­treten ist sowie (2.) dadurch am Anstalt­sort ein neuer Wohn­sitz begrün­det wurde oder der alte Wohn­sitz beste­hen geblieben ist. In dem für die amtliche Samm­lung vorge­se­henen Urteil 5E_1/2011 vom 24. Okto­ber 2011 hat das Bun­des­gericht die Klage des Kan­tons St. Gallen gut­ge­heis­sen und den Kan­ton Thur­gau verpflichtet, die Über­nahme und Weit­er­führung der Bei­s­tand­schaft durch die zuständi­ge kan­tonale Vor­mund­schafts­be­hörde zu veranlassen.

Zum Sachver­halt: X., mit Wohn­sitz in S./SG, ste­ht unter ein­er kom­binierten Bei­s­tand­schaft der kan­tonalen Vor­mund­schafts­be­hörde. Auf­grund physis­ch­er und psy­chis­ch­er Gesund­heit­sprob­leme kann sie ihre per­sön­lichen Angele­gen­heit­en und ihre Arbeit nicht mehr erledi­gen. Aus diesem Grund ist X. in ein Alters- und Pflege­heim in T./TG einge­treten; sie kündigte ihre Woh­nung und ihre Beschäf­ti­gung in S./SG. Den Mit­telpunkt ihrer Lebensin­ter­essen hat sie im Heim gefun­den, wo sie gut inte­gri­ert und all­seits beliebt ist. Sie nimmt aktiv am Heim­leben und an örtlichen Anlässen teil. Zu ihrem früheren Wohnort pflegt sie keine insti­tu­tionellen oder emo­tionalen Bindun­gen mehr.

Für die Bes­tim­mung des Wohn­sitzes ist zu beacht­en, (1.) dass sich der Wohn­sitz ein­er Per­son an dem Orte befind­et, wo sie sich mit der Absicht dauern­den Verbleibens aufhält (Art. 23 Abs. 1 ZGB), (2.) dass der ein­mal begrün­dete Wohn­sitz ein­er Per­son bis zum Erwerbe eines neuen Wohn­sitzes beste­hen bleibt (Art. 24 Abs. 1 ZGB), (3.) dass eine ver­beistän­dete Per­son im Erwerb eines neuen Wohn­sitzes im Gegen­satz zu ein­er bevor­munde­ten Per­son nicht eingeschränkt ist (Art. 25 Abs. 2 ZGB, e con­trario) und (4.) dass die Unter­bringung ein­er Per­son in ein­er Anstalt keinen Wohn­sitz begrün­det (Art. 26 ZGB). Dass X. unter Bei­s­tand­schaft ste­ht, hat somit keinen Ein­fluss auf ihren Wohn­sitz. Sie kann ihren Wohn­sitz frei begrün­den und wech­seln. Ihr Wohn­sitz bes­timmt sich primär nach Art. 23 und Art. 26 ZGB und sub­sidiär nach Art. 24 ZGB (E. 3.1).

Die Vertre­tung durch einen Bei­s­tand wird von der Vor­mund­schafts­be­hörde am Wohn­sitz der Per­son ange­ord­net, die der Bei­s­tand­schaft bedarf (vgl. Art. 396 Abs. 1 ZGB), während die Anord­nung ein­er Ver­mö­gensver­wal­tung durch die Vor­mund­schafts­be­hörde des Ortes erfol­gt, wo das Ver­mö­gen in seinem Hauptbe­standteil ver­wal­tet wor­den oder der zu vertre­tenden Per­son zuge­fall­en ist (vgl. Art. 396 Abs. 2 ZGB). Beste­ht eine sog. kom­binierte Bei­s­tand­schaft, ist für die Zuständigkeit im Einzelfall zu klären, ob die Mass­nahme mehr per­sön­lichkeit­sori­en­tiert ist (Vertre­tung) oder das ver­mö­gen­srechtliche Ele­ment (Ver­wal­tung) im Vorder­grund ste­ht. Im Falle der kom­binierten Bei­s­tand­schaft über X. über­wiegt das Bedürf­nis nach per­sön­lich­er Betreu­ung (vgl. Art. 392 Ziff. 1 ZGB) die Notwendigkeit des Ver­mö­genss­chutzes (vgl. Art. 393 Ziff. 2 ZGB). Die Zuständigkeit der Vor­mund­schafts­be­hörde beurteilt sich deshalb nicht nach dem Ort der Ver­mö­gensver­wal­tung, son­dern nach dem Wohn­sitz von X (E. 3.2).

Die für die Anord­nung der Bei­s­tand­schaft in Art. 396 Abs. 1 ZGB getrof­fene Regelung ist auch für die Über­tra­gung ein­er Bei­s­tand­schaft zu berück­sichti­gen, soweit es sich um eine per­so­n­en­be­zo­gene Bei­s­tand­schaft han­delt. Hat die ver­beistän­dete Per­son an einem neuen Ort rechtlichen Wohn­sitz begrün­det, beste­ht für die Vor­mund­schafts­be­hör­den sowohl des ursprünglichen als auch des neuen Wohn­sitzes das Recht bzw. die Pflicht, eine auf Dauer angelegte, per­so­n­en­be­zo­gene Bei­s­tand­schaft abzugeben bzw. zu übernehmen. Entschei­dend für die Zuständigkeit der Vor­mund­schafts­be­hörde ist hier somit, ob X. mit ihrem Ein­tritt in das Alters- und Pflege­heim einen neuen Wohn­sitz in T./TG erwor­ben hat (vgl. Art. 23 und Art. 26 ZGB) oder S./SG als ihr bish­eriger Wohn­sitz beste­hen geblieben ist (vgl. Art. 24 ZGB) (E. 3.3).

Keinen Wohn­sitz begrün­det gemäss Art. 26 ZGB die Unter­bringung ein­er Per­son in ein­er Erziehungs‑, Versorgungs‑, Heil- oder Strafanstalt. Als Anstal­ten im Geset­zessinne gel­ten öffentliche oder pri­vate Ein­rich­tun­gen, die einem vorüberge­hen­den Son­derzweck (z.B. Pflege, Heilung, Erziehung, Strafver­büs­sung, Kur, Ferien) und nicht dem all­ge­meinen Leben­szweck dienen. Das Alters- und Pflege­heim, in dem X. lebt, erfüllt diese Tatbe­standsvo­raus­set­zun­gen. Die Son­der­regelung über den „Aufen­thalt in Anstal­ten“ gemäss Art. 26 ZGB ist auf die Bes­tim­mung des Wohn­sitzes von X. und damit für die Zuständigkeit der Vor­mund­schafts­be­hör­den zur (Weiter-)Führung der Bei­s­tand­schaft anwend­bar (E. 3.4).

Wer trotz Art. 26 ZGB am Ort der Anstalt Wohn­sitz erwer­ben will, muss frei­willig dor­thin gegan­gen sein und in für Dritte erkennbar­er Weise die Absicht bekun­det haben, am entsprechen­den Ort auf Dauer zu ver­weilen. Strit­tig ist somit, ob die unter Bei­s­tand­schaft ste­hende X. frei­willig in das Alters- und Pflege­heim einge­treten ist und in T./TG ihren rechtlichen Wohn­sitz begrün­det hat (so der Kläger) oder ob X. im Alters- und Pflege­heim unterge­bracht wor­den ist und in T./TG auch keinen rechtlichen Wohn­sitz begrün­det hat (so der Beklagte).

Zur ersten Frage, ob eine Unter­bringung oder ein frei­williger Ein­tritt vor­liegt, hält das Bun­des­gericht fest: 

4.1 Die Recht­sprechung betra­chtet als “Unter­bringung in ein­er Anstalt” die Ein­weisung durch Dritte. Die betrof­fene Per­son tritt nicht aus eigen­em Willen in die Anstalt ein. Eine Begrün­dung des Wohn­sitzes am Anstalt­sort ist unter diesen Umstän­den regelmäs­sig aus­geschlossen. Eine andere Sichtweise ist einzunehmen, wenn sich eine urteils­fähige mündi­ge Per­son aus freien Stück­en, d.h. frei­willig und selb­st­bes­timmt zu einem Anstalt­saufen­thalt unbeschränk­ter Dauer entschliesst und überdies die Anstalt und den Aufen­thalt­sort frei wählt. Sofern bei einem unter solchen Beglei­tum­stän­den erfol­gen­den Anstalt­sein­tritt der Lebens­mit­telpunkt in die Anstalt ver­legt wird, wird am Anstalt­sort ein neuer Wohn­sitz begrün­det. Als frei­willig und selb­st­bes­timmt hat der Anstalt­sein­tritt auch dann zu gel­ten, wenn er vom “Zwang der Umstände” (etwa Angewiesen­sein auf Betreu­ung, finanzielle Gründe) dik­tiert wird […].

Vor­liegend ist rel­e­vant, dass X. nicht nur mündig, son­dern auch urteils­fähig ist. (Davon abge­se­hen dür­fen an die Urteils­fähigkeit im Bere­ich der Wohn­sitzfrage keine stren­gen Anforderun­gen gestellt wer­den). Es ist ins­ge­samt davon auszuge­hen, dass sie das Alters- und Pflege­heim „mit Unter­stützung“ bzw. „mit Hil­fe“ ihres Brud­ers selb­st aus­gewählt hat. Blosse Unter­stützung oder Hil­feleis­tung beein­trächtigt die Frei­heit des Wil­lensentschlusses nicht. Dass X. wegen ihrer Krankheit in einem dafür geeigneten Heim der inten­siv­en Betreu­ung bedarf, macht ihren Ein­tritt in das Alters- und Pflege­heim indes wed­er unfrei­willig noch fremdbes­timmt im Sinne der Rechtsprechung.

Zur zweit­en Frage, ob ein neuer Wohn­sitz erwor­ben wurde oder der bish­erige Wohn­sitz beste­hen blieb, stellt das Bun­des­gericht klar:

5.1 Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befind­et sich der Wohn­sitz ein­er Per­son an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauern­den Verbleibens aufhält. Für die Begrün­dung des Wohn­sitzes müssen somit zwei Merk­male erfüllt sein: ein objek­tives äusseres, der Aufen­thalt, sowie ein sub­jek­tives inneres, die Absicht dauern­den Verbleibens. Nach der Recht­sprechung kommt es nicht auf den inneren Willen, son­dern darauf an, welche Absicht objek­tiv erkennbar ist […]. Eine Per­son hat ihren Lebens­mit­telpunkt dort, wo sich ihre Lebensin­ter­essen nach den konkreten Umstän­den objek­tiv betra­chtet konzentrieren […].

In casu ist X. gewil­lt, auf Dauer in dem Alters- und Pflege­heim zu leben. Das ergibt sich daraus, dass sie ihre frühere Beschäf­ti­gung und ihre bish­erige Woh­nung aufgegeben hat. Hinzu kommt, dass sie sich ganz auf das Leben und die Aktiv­itäten in dem Heim und dem neuen Wohnort konzen­tri­ert, aber keine Bindun­gen mehr zum bish­eri­gen Wohnort mehr hat. Diese Indizien lassen darauf schliessen, dass sich der Lebens­mit­telpunkt für Dritte erkennbar nicht mehr in S./SG, son­dern neu in T./TG befind­et. Sie hat dort einen neuen rechtlichen Wohn­sitz begründet.