1C_230/2011: Google Street View: Interessenabwägung, Verhältnismässigkeit der Anforderungen an Anonymisierung (amtl. Publ.)

Das BGer heisst die Beschw­erde von Google gegen das Streetview-Urteil des BVGer teil­weise gut (zum Urteil des BVGer vgl. hier).

1. Per­so­n­en­bezug / Bestimmbarkeit

Mit Bezug auf die daten­schutzrechtlichen Fra­gen hielt das BGer zunächst fest, dass eine Bear­beitung von Per­so­n­en­dat­en i.S.v. DSG 2 I vor­liege und der sach­liche Anwen­dungs­bere­ich des DSG damit eröffnet sei. Die auf den Bildern des Street View-Dien­stes erkennbaren Per­so­n­en seien bes­timm­bar i.S.v. DSG 3 lit. a. Auch ein Augen­balken oder die Ver­wis­chung der Gesichtspar­tie schliesst die Erkennbarkeit nicht ohne Weit­eres aus. Die Erkennbarkeit kann sog­ar vor­liegen, wenn das Gesicht automa­tisch ver­wis­cht wurde. Zudem kön­nen auch Bilder von pri­vat­en Gärten etc. Per­so­n­en­dat­en sein. Offen­ge­lassen wurde die Frage, ob schon Auf­nah­men von Haus­fas­saden schon Per­so­n­en­dat­en sind. — Bei den Roh­dat­en von Google (vor Ver­wis­chung) han­delt es sich selb­stver­ständlich (häu­fig) eben­falls um Per­so­n­en­dat­en. Es war zudem davon auszuge­hen, dass Dritte ein Inter­esse an diesen Angaben haben und entsprechend bere­it sind, eine Iden­ti­fizierung vorzunehmen.

2. Recht­fer­ti­gungs­be­darf und ‑möglichkeit 

Zu prüfen war sodann die Ein­hal­tung der Bear­beitungs­grund­sätze von DSG 4, 5 I und 7 I, wobei das BGer daran erin­nert, dass auch eine Bear­beitung ent­ge­gen dieser Grund­sätze gerecht­fer­tigt sein kann (obwohl DSG 12 I a — der auf diese Bes­tim­mungen ver­weist — den Vor­be­halt eines Recht­fer­ti­gungs­grunds nicht mehr aus­drück­lich enthält). Eine Recht­fer­ti­gung ist aber nur mit gross­er Zurück­hal­tung anzunehmen (BGE 136 II 508 i.S. Logis­tep). Das soll auf Dien­ste wie Street View (sys­tem­a­tis­che Bear­beitung und unbes­timm­bar­er Nutzerkreis) sog­ar beson­ders zutreffen.

Das BGer sieht sodann in mehrfach­er Hin­sicht Recht­fer­ti­gungs­be­darf. Man könne nicht all­ge­mein sagen, die in Street View erkennbaren Per­so­n­en seien bloss “Bei­w­erk” (Staffage). Die betrof­fe­nen Per­so­n­en kön­nen ins Zen­trum des Bildes gerückt oder herange­zoomt wer­den. Das schliesse eine rechtliche Behand­lung als bloss­es “Bei­w­erk” aus. Ausser­dem kön­nen missliche Sit­u­a­tio­nen aufgenom­men wer­den; Per­so­n­en und Fahrzeuge kön­nen im Bere­ich von sen­si­blen Ein­rich­tun­gen fotografiert wer­den; und Gärten und umfriedete Höfe fall­en in die Pri­vat­sphäre. Daher liege oft eine Per­sön­lichkeitsver­let­zung vor und fol­glich eine unrecht­mäs­sige Bear­beitung i.S.v. DSG 4 I.

Ausser­dem sei der Grund­satz der Erkennbarkeit (DSG 4 IV) und der Zweck­bindung (DSG 4 III) ver­let­zt, weil der Zweck der Google-Fahrzeuge und ihre konkrete Auf­nah­metätigkeit nicht ohne Weit­eres erkennbar seien und auch die Infor­ma­tion jew­eils eine Woche im Voraus nicht reiche.

3. Recht­fer­ti­gung: Interessenabwägung

Eine Recht­fer­ti­gung (DSG 13) kam im vor­liegen­den Fall auf­grund der pri­vat­en Inter­essen von Google in Betra­cht, aber auch des Inter­ess­es der All­ge­mein­heit an der Ver­füg­barkeit des Street View-Dien­stes in Betra­cht. Das BVGer hat­te dazu noch fest­ge­hal­ten, “[d]ie Kosten­losigkeit von Google Street View lässt sich denn auch nicht als über­wiegen­des pri­vates oder gar öffentlich­es Inter­esse anführen”. Diesen Inter­essen ste­hen die Per­sön­lichkeitss­chutz­in­ter­essen der Betrof­fe­nen ent­ge­gen. Zu beacht­en ist aber, dass

angesichts der in der heuti­gen Gesellschaft fak­tisch beste­hen­den Ein­bindung von Per­so­n­en­dat­en in die soziale Real­ität nicht ein totaler Schutz vor ein­er unbefugten Bild­veröf­fentlichung gewährleis­tet wer­den kann.

Das BGer kommt im Rah­men der aus­führlichen Inter­essen­ab­wä­gung zum Ergeb­nis, eine Fehlerquote (d.h. Quote von verse­hentlich nicht aus­re­ichend anonymisierten Auf­nah­men) sei hinzunehmen (konkret: 1%), sofern die die unterbliebe­nen Anonymisierun­gen auf Anzeige hin manuell vorgenom­men werde und diese Möglicheit durch einen gut sicht­baren Link (z.B. “Anonymisierung ver­lan­gen”) angezeigt wird. “Berechtigte” Anonymisierungswün­sche müssen rasch und kosten­los umge­set­zt wer­den, ohne dass ein Inter­esse an der Anonymisierung nachzuweisen wäre. Ausser­dem muss eine Postadresse für analoge Bean­stan­dun­gen angegeben wer­den. Google muss die Wider­spruchsmöglichkeit­en zudem  regelmäs­sig (min­destens alle 3 Jahre) in “weit ver­bre­it­eten Medi­en, namentlich auch Presseerzeug­nis­sen” öffentlich bekan­nt machen, und neue Kam­er­afahrten sind eben­falls in den Medi­en anzukündigen.

Ausser­dem muss Google im Bere­ich von sen­si­blen Ein­rich­tun­gen (z.B. Schulen, Spitäler, Frauen­häuser, Gerichte usw.) nicht nur Gesichter und Kon­trollschilder anonymisieren, son­dern die Auf­nah­men so weit­ge­hend ver­wis­chen, dass auch zusät­zliche indi­vid­u­al­isierende Merk­male (Haut­farbe, Klei­dung, Hil­f­s­mit­tel von kör­per­lich behin­derten Per­so­n­en usw.) nicht mehr erkennbar sind. 

Zudem ist die Kam­er­ahöhe auf max. 2 m zu beschränken, damit ein Sichtschutz (Zäune oder Heck­en) auch gegenüber den Kam­eras wirken.

Dem BGer ist natür­lich klar, dass die Ein­hal­tung dieser Vor­gaben nicht über­prüf­bar ist. Es betont aber, dass der EDÖB über die Fortschritte bei der automa­tis­chen Anonymisierung und den Aufwand über die zusät­zliche Ver­wis­chung zu informieren ist (DSG 29 II). Zudem muss Google “mit allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den tech­nis­chen Mit­teln eine voll­ständi­ge Anonymisierung an[zu]streben und die automa­tis­che Anonymisierung laufend dem Stand der Tech­nik an[zu]passen”.