2C_590/2014: Die kostenlose Vollzeitbetreuung eines behinderten Kindes wird vom verfassungsmässigen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht mitumfasst (amtl. Publ.)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 4. Dezem­ber 2014 äussert sich das BGer zum Umfang der Kostengut­sprache für eine Vol­lzeit­be­treu­ung eines behin­derten Kindes. A. lei­det an ein­er Autismus-Spek­trum-Störung und trat zu Beginn des Schul­jahres 2009/2010 in die Regelk­lasse ein. In diesem Zusam­men­hang führte die Schulpflege aus, dass A. mit wöchentlich 18 Stun­den Assis­tenz unter­stützt werde. Die darüber hin­aus­ge­hen­den Stun­den für eine Vol­lzeit­be­treu­ung hät­ten die Eltern zu finanzieren. Gegen den Entscheid der Schulpflege führten die Eltern von A. Beschw­erde an den Schul­rat, wobei sie beantragten, dass eine Kostengut­sprache für sämtliche erforder­lichen Assis­ten­zlek­tio­nen — und nicht nur für die vorge­se­henen 18 Stun­den — zu erteilen sei. Den abschlägi­gen Entscheid des Schul­rats zogen die Eltern bis vor BGer, welch­es die Beschw­erde gutheisst.

Das BGer äussert sich schw­ergewichtig zum in den Art. 19 und 62 Abs. 2 BV normierten Anspruch auf aus­re­ichen­den und unent­geltlichen Grund­schu­lun­ter­richt. Dieser müsse angemessen und geeignet sein und er müsse genü­gen, um die Schüler sachgerecht auf ein selb­stver­ant­wortlich­es Leben im mod­er­nen All­t­ag vorzu­bere­it­en. Behin­derte hät­ten in diesem Rah­men einen Anspruch auf geeignete Sonderschulung.

Der ver­fas­sungsrechtliche Anspruch umfasst nur ein angemessenes, erfahrungs­gemäss aus­re­ichen­des Bil­dungsange­bot an öffentlichen Schulen. Ein darüber hin­aus­ge­hen­des Mass an indi­vidu­eller Betreu­ung, das the­o­retisch immer möglich wäre, kann mit Rück­sicht auf das staatliche Leis­tungsver­mö­gen nicht einge­fordert wer­den […]. Der ver­fas­sungsmäs­sige Anspruch auf unent­geltlichen Grund­schu­lun­ter­richt gebi­etet mit anderen Worten nicht die opti­male bzw. geeignet­ste über­haupt denkbare Schu­lung von behin­derten Kindern […] (E. 3.3.).

Gemäss Art. 62 Abs. 2 BV müssen die Kan­tone für einen Grund­schu­lun­ter­richt sor­gen, der allen Kindern offen ste­ht und an den öffentlichen Schulen unent­geltlich erfol­gt. Unab­hängig davon, welche Lösung die Kan­tone bzw. die aus­führen­den Gemein­den zur Erfül­lung dieser Pflicht bei behin­derten Kindern wählen, sei es die inte­gra­tive oder die sep­a­r­a­tive Son­der­schu­lung, sind hier­für keine finanziellen Beteili­gun­gen der Eltern zuläs­sig. Von diesem Prinzip darf nicht abgewichen wer­den, selb­st wenn eine Schule zum Wohle des behin­derten Kindes eine geset­zlich nicht vorge­se­hene Leis­tung erbringt; wom­it es nicht darauf ankommt, ob die Inte­gra­tion in die Regelschule mit ein­er Vol­lzeitas­sis­tenz — wie hier — auf Wun­sch der Eltern oder durch die zuständi­gen Behör­den sel­ber erfol­gt […] (E. 4.1.).

Die Inte­gra­tion von A. sei sowohl per­son­ell wie auch organ­isatorisch möglich und die Mitschüler hät­ten keine Beein­träch­ti­gung ihrer Bil­dungsrechte beklagt. Zudem verur­sache die inte­gra­tive Schu­lung  nor­maler­weise weniger Kosten als der Unter­richt an ein­er Son­der­schule. A. geniesse somit bei der Inte­gra­tion mit zusät­zlichen Assis­ten­zlek­tio­nen einen den konkreten Umstän­den entsprechen­den aus­re­ichen­den Grund­schu­lun­ter­richt, welch­er zwin­gend unent­geltlich sein müsse.

Vor diesem Hin­ter­grund hiess das BGer die Beschw­erde gut, hob das Urteil der Vorin­stanz auf und ver­fügte, dass der Besuch der Regelk­lasse durch A. unent­geltlich zu erfol­gen habe.