4A_83/2015: Verschulden im Strassenverkehr (Art. 58 Abs. 2 SVG)

Der Beschw­erde­führer wurde bei einem Verkehrsun­fall schw­er ver­let­zt. Er fuhr auf seinem Motor­rad auf ein­er Neben­strasse in Rich­tung Dor­fzen­trum. In sein­er Fahrrich­tung war ein weiss­er LKW am Strassen­rand parkiert, um Kanis­ter auszuliefern. Der LKW befand sich mit rund 70 cm auf dem Trot­toir und in sein­er restlichen Bre­ite auf der Strasse. Auf der recht­en Fahrspur war ein Durch­fahrbere­ich von etwas mehr als einem Meter offen. Um die Kanis­ter abzu­laden, hat­te der LKW-Führer die Lade­bor­d­wand in die Hor­i­zon­tale herun­tergeklappt, wodurch sie dem her­an­fahren­den Beschw­erde­führer zuge­wandt in den Luftraum ragte. An der Unter­seite der nun als Hebe­bühne dienen­den Lade­bor­d­wand waren zwei gelb-schwarze Warn­flaggen mon­tiert. Der LKW war von weit­em, min­destens jedoch aus hun­dert Metern Ent­fer­nung sicht­bar. Der Beschw­erde­führer näherte sich auf dem Motor­rad bis auf einige Meter und set­zte dann zum Über­holen an. Als der Beschw­erde­führer den LKW umfahren wollte, berührte er die Lade­bor­d­wand mit der recht­en Schul­ter und stürzte (Urteil 4A_83/2015 vom 15. Juni 2015). 

Da der LKW im Zeit­punkt des Unfalls parkiert und nicht in Betrieb war, stützte sich eine allfäl­lige Haf­tung auf Art. 58 Abs. 2 SVG. Danach haftet der Hal­ter eines Fahrzeugs, wenn der Geschädigte beweist, dass den Hal­ter oder Per­so­n­en, für die er ver­ant­wortlich ist, ein Ver­schulden trifft oder dass fehler­hafte Beschaf­fen­heit des Motor­fahrzeugs mit­gewirkt hat. Dass keine fehler­hafte Beschaf­fen­heit vor­lag, war unbe­strit­ten. Das Bun­des­gericht hat­te dem­nach zu entschei­den, ob den LKW-Führer ein Ver­schulden traf (vgl. zum Ganzen E. 3).

Das Bun­des­gericht verneinte ein Ver­schulden. Es erwog ins­beson­dere, dass das Strassen­verkehrs­ge­setz das Ver­schulden nicht spez­i­fisch definiert, weshalb die all­ge­meinen Grund­sätze gel­ten (E. 3.1). Mass­ge­blich ist nicht die sub­jek­tive Aufmerk­samkeit des Beschw­erde­führers, son­dern die objek­tivierte Aufmerk­samkeit eines durch­schnit­tlichen Verkehrsteil­nehmers. Für den Aus­gang des Ver­fahrens war deshalb nicht rel­e­vant, ob der Beschw­erde­führer die herun­tergeklappte Lade­bor­d­wand gese­hen hat­te (E. 3.2).

Weit­er stellte das Bun­des­gericht fest, dass Verkehrsteil­nehmer auf Neben­strassen mit parkierten Fahrzeu­gen und entsprechen­den Behin­derun­gen rech­nen müssen. Der LKW war überdies von weit­em sicht­bar und der LKW-Führer musste nicht damit rech­nen, dass ein Verkehrsteil­nehmer bis auf wenige Meter an den LKW her­an­fährt und erst dann zum Über­holen anset­zt. Damit ent­fiel eine Haf­tung gestützt auf Art. 58 Abs. 2 SVG (E. 3.3).