Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil vom 16. März 2016 äusserte sich das BGer zum ersten Mal zur Zulässigkeit der sogenannten “Lüftungsfensterpraxis”. Im Jahr 2013 erhielten diverse Bauherren Baubewilligungen für die Erstellung mehrerer Einfamilienhäuser im Gebiet Bölli Süd in Niederlenz, in welchem die Planungswerte für Industrie- und Gewerbelärm für die Lärm-Empfindlichkeitsstufe II um bis zu 15 dB(A) überschritten werden. Da das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die von der F. AG gegen die Erteilung der Baubewilligungen gerichtete Beschwerde guthiess, gelangten die Bauherren an das BGer, welches die Verfahren vereinigt.
Das BGer hat insbesondere zu prüfen, ob es Gründe gibt, für das Bauen in lärmbelasteten Gebieten (Art. 22 USG) die Messung an dem am wenigsten exponierten Lüftungsfenster jedes lärmempfindlichen Raums ausreichen zu lassen (“Lüftungsfensterpraxiss”). Die Bauherren bringen diesbezüglich vor, dass die “Lüftungsfensterpraxis” von mehreren Kantonen angewendet werde und die Immissionsgrenzwerte bei den geplanten Liegenschaften an mindestens einem Fenster pro lärmempfindlichem Raum eingehalten würden.
Gemäss Art. 39 Abs. 1 LSV (Lärmschutz-Verordnung, SR 814.41) werden Lärmimmissionen in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume ermittelt. Das BGer sagt dazu Folgendes:
Entscheidend für die Auslegung von Art. 39 Abs. 1 LSV ist […] der Zweckgedanke dieser Bestimmung: Die “Lüftungsfensterpraxis” führt, wie das BAFU und die Vorinstanz dargelegt haben, zur Aushölung des vom Gesetzgeber gewollten Gesundheitsschutzes: Genügt es für die Baubewilligung, wenn die Immissionsgrenzwerte am ruhigsten Fenster jedes lärmempfindlichen Raums eingehalten sind, kann sich die Projektgestaltung auf die Abschirmung der hinterliegenden Lüftungsfenster beschränken; weitere Massnahmen werden aus Kostengründen nicht ergriffen und könnten auch nicht verlangt werden […]. Die Vollzugsbehörde muss vielmehr die Baubewilligung erteilen, ohne dass Raum für eine Interessenabwägung verbleibt. Auch Art. 32 Abs. 2 LSV (verschärfte Anforderungen an die Schalldämmung) kommt nicht zum Zuge, wenn keine Ausnahmebewilligung erforderlich ist. Wenn es genügt, die Lüftungsfenster auf der lärmabgewandten Seite vorzuschreiben, um die Zonenplanung zu realisieren, sinkt der Druck auf das Gemeinwesen, Massnahmen zur Bekämpfung von schädlichen oder lästigen Lärmimmissionen an der Quelle anzuordnen, obwohl diese nach Art. 11 Abs. 1 USG Vorrang geniessen [E. 4.4.]).
Das BGer fasst zusammen, dass die Immissionsgrenzwerte an allen Fenstern lärmempfindlicher Räume eingehalten werden müssten, die “Lüftungsfensterpraxis” unzulässig und die Beschwerde deshalb abzuweisen sei. Unter diesen Umständen könne das Gebiet Bölli Süd nicht wie vorgesehen überbaut werden.