1C_139/2015 et. al.: Sogenannte “Lüftungsfensterpraxis” unzulässig (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 16. März 2016 äusserte sich das BGer zum ersten Mal zur Zuläs­sigkeit der soge­nan­nten “Lüf­tungs­fen­ster­prax­is”. Im Jahr 2013 erhiel­ten diverse Bauher­ren Baube­wil­li­gun­gen für die Erstel­lung mehrerer Ein­fam­i­lien­häuser im Gebi­et Böl­li Süd in Nieder­lenz, in welchem die Pla­nungswerte für Indus­trie- und Gewer­belärm für die Lärm-Empfind­lichkeitsstufe II um bis zu 15 dB(A) über­schrit­ten wer­den. Da das Ver­wal­tungs­gericht des Kan­tons Aar­gau die von der F. AG gegen die Erteilung der Baube­wil­li­gun­gen gerichtete Beschw­erde guthiess, gelangten die Bauher­ren an das BGer, welch­es die Ver­fahren vereinigt.

Das BGer hat ins­beson­dere zu prüfen, ob es Gründe gibt, für das Bauen in lärm­be­lasteten Gebi­eten (Art. 22 USG) die Mes­sung an dem am wenig­sten exponierten Lüf­tungs­fen­ster jedes lärmempfind­lichen Raums aus­re­ichen zu lassen (“Lüf­tungs­fen­ster­praxiss”). Die Bauher­ren brin­gen dies­bezüglich vor, dass die “Lüf­tungs­fen­ster­prax­is” von mehreren Kan­to­nen angewen­det werde und die Immis­sion­s­gren­zw­erte bei den geplanten Liegen­schaften an min­destens einem Fen­ster pro lärmempfind­lichem Raum einge­hal­ten würden.

Gemäss Art. 39 Abs. 1 LSV (Lärm­schutz-Verord­nung, SR 814.41) wer­den Lär­mim­mis­sio­nen in der Mitte der offe­nen Fen­ster lärmempfind­lich­er Räume ermit­telt. Das BGer sagt dazu Folgendes:

Entschei­dend für die Ausle­gung von Art. 39 Abs. 1 LSV ist […] der Zweckgedanke dieser Bes­tim­mung: Die “Lüf­tungs­fen­ster­prax­is” führt, wie das BAFU und die Vorin­stanz dargelegt haben, zur Aushölung des vom Geset­zge­ber gewoll­ten Gesund­heitss­chutzes: Genügt es für die Baube­wil­li­gung, wenn die Immis­sion­s­gren­zw­erte am ruhig­sten Fen­ster jedes lärmempfind­lichen Raums einge­hal­ten sind, kann sich die Pro­jek­t­gestal­tung auf die Abschir­mung der hin­ter­liegen­den Lüf­tungs­fen­ster beschränken; weit­ere Mass­nah­men wer­den aus Kosten­grün­den nicht ergrif­f­en und kön­nten auch nicht ver­langt wer­den […]. Die Vol­lzugs­be­hörde muss vielmehr die Baube­wil­li­gung erteilen, ohne dass Raum für eine Inter­essen­ab­wä­gung verbleibt. Auch Art. 32 Abs. 2 LSV (ver­schärfte Anforderun­gen an die Schalldäm­mung) kommt nicht zum Zuge, wenn keine Aus­nah­me­be­wil­li­gung erforder­lich ist. Wenn es genügt, die Lüf­tungs­fen­ster auf der lärmabge­wandten Seite vorzuschreiben, um die Zonen­pla­nung zu real­isieren, sinkt der Druck auf das Gemein­we­sen, Mass­nah­men zur Bekämp­fung von schädlichen oder lästi­gen Lär­mim­mis­sio­nen an der Quelle anzuord­nen, obwohl diese nach Art. 11 Abs. 1 USG Vor­rang geniessen [E. 4.4.]).

Das BGer fasst zusam­men, dass die Immis­sion­s­gren­zw­erte an allen Fen­stern lärmempfind­lich­er Räume einge­hal­ten wer­den müssten, die “Lüf­tungs­fen­ster­prax­is” unzuläs­sig und die Beschw­erde deshalb abzuweisen sei. Unter diesen Umstän­den könne das Gebi­et Böl­li Süd nicht wie vorge­se­hen über­baut werden.