1C_457/2015: Die Urteilsfällung im Anschluss an den Augenschein verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn den Parteien das Augenscheinprotokoll nicht zugestellt wird (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 3. Mai 2016 äusserte sich das BGer zu einem durch das Oberg­ericht des Kan­tons Appen­zell Ausser­ho­den durchge­führten Augen­schein. In ein­er nach­bar­rechtlichen Stre­it­igkeit (Mit­be­nutzung ein­er beste­hen­den Zufahrt) machte sich das Oberg­ericht vor Ort ein Bild und fällte gle­ichen­tags seinen Entscheid. Dage­gen gelangten A. und B. an das BGer, welch­es ihre Beschw­erde gutheisst.

A. und B. rügen eine Ver­let­zung ihres Anspruchs auf rechtlich­es Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Sie hät­ten keine Gele­gen­heit erhal­ten, sich zum Beweis­ergeb­nis des oberg­erichtlichen Augen­scheins zu äussern. Ein Augen­schein­pro­tokoll sei nicht erstellt wor­den oder den Beschw­erde­führern nicht zugestellt wor­den. In einem Schreiben hät­ten die Beschw­erde­führer zwar fest­ge­hal­ten, dass sie auf die Durch­führung ein­er Hauptver­hand­lung verzichteten, nicht aber auf eine mündliche Beweisver­hand­lung.

Zum Anspruch auf rechtlich­es Gehör sagt das BGer Folgendes:

Am Augen­schein […] wur­den ver­schiedene Sachver­halts­fest­stel­lun­gen getrof­fen, die für den Entscheid erhe­blich waren. Eine Parteiver­hand­lung wurde im Anschluss an den Augen­schein nicht durchge­führt; in der Urteils­be­grün­dung find­en sich auch keine Äusserun­gen der Parteien zum Ergeb­nis des Augen­scheins. Hinzu kommt, dass das Oberg­ericht nachträglich eine umfan­gre­iche, aus­sagekräftige Fotodoku­men­ta­tion erstellt und direkt dem Bun­des­gericht über­mit­telt hat, mit zahlre­ichen Fotos, Kom­mentaren, Mas­sangaben und Her­vorhe­bun­gen mit roten und gel­ben Pfeilen. Auch wenn die Fotos vor den Augen der Parteien gemacht wur­den, wie das Oberg­ericht vor­bringt, erset­zt dies nicht die Möglichkeit, sich zu den fer­ti­gen Bildern […] und damit möglicher­weise ver­bun­de­nen falschen Ein­drück­en vor Urteils­fäl­lung zu äussern; gle­ich­es gilt für die Begleitkom­mentare mit Dis­tan­zangaben. Nur unter dieser Voraus­set­zung ist der Anspruch der Parteien auf Mitwirkung am Beweisver­fahren gewährleis­tet und kann die Doku­men­ta­tion dem Urteil oder einem späteren Rechtsmit­telver­fahren zugrun­degelegt wer­den […] (E. 2.5.).

Da das Ver­hal­ten der Beschw­erde­führer auch nicht als Verzicht inter­pretiert wer­den könne, habe das Oberg­ericht nach Treu und Glauben nicht davon aus­ge­hen dür­fen, dass die Parteien mit ein­er sofor­ti­gen Urteils­fäl­lung und ein­er nachträglichen Fotodoku­men­ta­tion ein­ver­standen gewe­sen seien. Das BGer hebt den Entscheid des Oberg­erichts des Kan­tons Appen­zell Ausser­ho­den deshalb auf und weist die Sache zur neuen Beurteilung an das Oberg­ericht zurück.