6B_73/2017: Bedingte Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug (amtl. Publ.; Fortentwicklung der Rspr.)

Die Fol­gen, die ein Wider­ruf der Ein­willi­gung zum vorzeit­i­gen Strafantritt durch den Beschuldigten zeit­igt, ste­hen im Mit­telpunkt eines für die amtliche Samm­lung vorge­se­henen Entschei­ds vom 16. Feb­ru­ar 2017. Das Bun­des­gericht set­zt sich mit dieser Frage erst­mals aus­führlich seit Inkraft­treten der eid­genös­sis­chen Straf­prozes­sor­d­nung (StPO) auseinander.

Das höch­ste Gericht hat­te in einem älteren Urteil noch entsch­ieden, dass nach erfol­gter Zus­tim­mung zum Strafantritt nicht mehr auf die Frage der Unter­suchung­shaft zurück­gekom­men wer­den könne, weil die Ein­willi­gung unwider­ru­flich sei (vgl. BGE 104 Ib 24 E. 3b). Später präzisierte es seine Recht­sprechung dahinge­hend, dass die beschuldigte Per­son berechtigt sein muss, jed­erzeit ein Begehren um Ent­las­sung aus der Haft bzw. dem vorzeit­i­gen Strafantritt zu stellen, da der Frei­heit­sentzug gegen den Willen des Betrof­fe­nen nur so lange gerecht­fer­tigt sein könne, als die Haftvo­raus­set­zun­gen gegeben seien (BGE 117 Ia 72 E. 1d).

In diesen früheren Erwä­gun­gen gab es jedoch keine richter­liche Stel­lung­nahme zur Frage, im Rah­men welchen Ver­fahrens diese Haft­prü­fung zu erfol­gen hat – die Antwort darauf find­et sich im aktuellen Urteil.

Das Bun­des­gericht äussert sich darin zunächst zum Vol­lzugsregime des vorzeit­i­gen Strafantritts, bei dem es sich um eine blosse Vari­ante der straf­prozes­sualen Haft handelt:

2.1. Der vorzeit­ige Straf- oder Mass­nah­menantritt stellt sein­er Natur nach eine straf­prozes­suale Zwangs­mass­nahme auf der Schwelle zwis­chen Strafver­fol­gung und Strafvol­lzug dar (BGE 133 I 270 E. 3.2.1). Damit soll schon vor Erlass des recht­skräfti­gen Stra­furteils ein Haftregime ermöglicht wer­den, das auf die per­sön­liche Sit­u­a­tion der beschuldigten Per­son zugeschnit­ten ist; ausser­dem kön­nen erste Erfahrun­gen mit der voraus­sichtlich sach­lich gebote­nen Vol­lzugs­form gesam­melt wer­den (BGE 126 I 172 E. 3a). Für eine Fort­dauer der straf­prozes­sualen Haft in den Modal­itäten des vorzeit­i­gen Strafvol­lzugs muss weit­er­hin min­destens ein beson­der­er Haft­grund (ana­log zu Art. 221 StPO; BGE 133 I 270 E. 3.2.1) vor­liegen. Sodann muss der vorzeit­ige Strafvol­lzug ver­hält­nis­mäs­sig sein (Urteil 1B_69/2016 vom 21. März 2016 E. 2.1).

Weit­er hält das Bun­des­gericht fest, dass trotz Ein­willi­gung auch für den mit dem vorzeit­i­gen Strafantritt ver­bun­de­nen Frei­heit­sentzug ein­er klaren geset­zlichen Grund­lage bedarf:

2.2. […] Vor dem Ein­tritt der Recht­skraft und damit dem Vol­lzug eines Urteils ver­langt das Gesetz für die Anord­nung der Unter­suchungs- oder Sicher­heit­shaft (inklu­sive Ersatz­mass­nah­men) ein­er­seits einen drin­gen­den Tatver­dacht und ander­er­seits das Vor­liegen eines beson­deren Haft­grunds (Art. 221 StPO). Die Ein­willi­gung zum vorzeit­i­gen Strafantritt ändert daran grund­sät­zlich nichts. Sie ent­bindet die Straf­be­hör­den lediglich davon, das geset­zlich vorgeschriebene Ver­fahren zur Anord­nung und Prü­fung der straf­prozes­sualen Haft (Art. 224 ff. StPO) einzuhal­ten. Mit sein­er aus­drück­lichen Ein­willi­gung zum vorzeit­i­gen Strafantritt verzichtet die beschuldigte Per­son auf die ihr durch Ver­fas­sung und EMRK garantierten und in der Straf­prozes­sor­d­nung konkretisierten Garantien; denn ohne seine Ein­willi­gung müssten diese zwin­gend einge­hal­ten wer­den (BGE 117 Ia 72 E. 1c).

Zieht der Beschuldigte im Nach­hinein seine Ein­willi­gung in den vorzeit­i­gen Strafantritt zurück, hat dieser Wider­ruf ver­schiedene rechtliche Konsequenzen:

2.3. […] Reicht die beschuldigte Per­son, die vorzeit­ig die Strafe ange­treten hat, ein Haf­tent­las­sungs­ge­such ein, ist unbe­strit­ten, dass ein weit­er­er Frei­heit­sentzug nur gerecht­fer­tigt ist, wenn nach den mass­geben­den Bes­tim­mungen der Straf­prozes­sor­d­nung die Voraus­set­zun­gen für die Anord­nung von Unter­suchungs- oder Sicher­heit­shaft gegeben sind. Mit ihrem Haf­tent­las­sungs­ge­such bringt sie aber auch klar zum Aus­druck, dass sie nicht nur die materiellen Voraus­set­zun­gen der Haft bestre­it­et, son­dern im Hin­blick auf einen allfäl­li­gen weit­eren Frei­heit­sentzug nicht mehr länger auf die ihr nach der Straf­prozes­sor­d­nung zuste­hen­den Ver­fahrens­garantien verzichtet.

Auf­grund dieser Umstände kann es nicht bei ein­er blossen Abweisung des Haf­tent­las­sungs­ge­suchs im Rah­men eines mehr oder weniger form­losen Ver­fahrens bleiben:

2.3. […] Vielmehr hat die mit der Behand­lung des Haf­tent­las­sungs­ge­suchs befasste Behörde nach den für die Haft­prü­fung gel­tenden Ver­fahren­sregeln zu entschei­den, ob die Voraus­set­zun­gen der Unter­suchungs- bzw. Sicher­heit­shaft nach wie vor gegeben sind. Verneint sie diese, hat sie die Haf­tent­las­sung zu ver­fü­gen. Bejaht sie die Voraus­set­zun­gen, hat sie formell die Unter­suchungs- bzw. Sicher­heit­shaft anzuord­nen, da nur so die zur Begrün­dung eines recht­mäs­si­gen Frei­heit­sentzugs beste­hen­den Garantien einge­hal­ten wer­den kön­nen. Der Vol­lzug­sort bleibt davon grund­sät­zlich unberührt, da auch die Unter­suchungs- und Sicher­heit­shaft in ein­er Vol­lzugsanstalt vol­l­zo­gen wer­den können.

Abschliessend hält das Urteil fest, dass die Regelung in Art. 233 StPO, wonach auf­grund des straf­prozes­sualen Beschle­u­ni­gungs­ge­bots über Haf­tent­las­sungs­ge­suche inner­halb von fünf Tagen zu entschei­den ist, auch für Gesuche um Ent­las­sung aus dem vorzeit­i­gen Sank­tio­nen­vol­lzug gilt (E. 3.2. m.w.H.).