Ein neunjähriger Junge zog sich beim Autoscooterfahren eine Schädigung der Zähne zu. Die Helsana, bei welcher er obligatorisch krankenpflege- und unfallversichert war, lehnte eine Deckung der Kosten ab, weil die Schadensursache kein Unfall sei. In Anbetracht der Bedeutung, welche die Wirkung eines äusseren Faktors ausnahmsweise für die Beurteilung seiner Ungewöhnlichkeit haben kann, ändert das BGer seine Rechtsprechung und qualifiziert den Zahnschaden als Unfallfolge.
Es war unbestritten, dass der Junge eine Körperverletzung durch eine plötzliche und unbeabsichtigte äussere Einwirkung erlitt. Umstritten war allein die erforderliche Ungewöhnlichkeit iSv ATSG 4.
Das BGer verweist (im erst dritten Urteil, in dem es aus Wikipedia zitiert; jeweils die II. Sozialrechtliche Abteilung) auf seine Rechtsprechung zu Autoscootern (Urteil vom 4. November 2005 (K 90/03, RKUV 2006 Nr. KV 351 S. 3), wonach der Zusammenstoss von Auto-Scootern nichts Ungewöhnliches darstelle:
“Zweck der Vergnügungsfahrt sei, sich einem unkoordinierten, unprogrammierten und damit auch von vornherein unkontrollierbaren Bewegungsablauf auszusetzen. Der gesamte Bewegungsablauf bilde eine Einheit. Daher könne auch die Störung der — durch den Aufprall ausgelösten — unkontrollierbaren Bewegung des Körpers durch das Hindernis Lenkrad nicht als Programmwidrigkeit angesehen werden, welche eine Ungewöhnlichkeit begründen würde. Ein Anschlagen des Kiefers liege nicht ausserhalb des Alltäglichen und Üblichen (…)”
Das BGer unterzieht Herkunft und Funktion des Ungewöhnlichkeitsbegriffs einer gründlichen Untersuchung und betont die Bedeutung, welche die Wirkung eines äusseren Faktors ausnahmsweise für seine Ungewöhnlichkeit haben kann. Als Regel gilt zwar:
“Nach der Rechtsprechung bezieht sich das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit ist insoweit, dass der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich zog (…).”
Dennoch:
(…) Hingegen ist die Wirkung, das heisst die Natur des Gesundheitsschadens, mit Blick auf die Bedeutung des Abgrenzungskriteriums im Einzelfall durchaus beachtlich.”
Dementsprechend:
“Auch ausserhalb der unfallähnlichen Körperschädigungen kann es sich ergeben, dass von der Auswirkung eines von aussen betrachtet regulär verlaufenden Geschehens zwangsläufig auf einen tatsächlich ungewöhnlichen Verlauf geschlossen werden muss.”
Daraus folgt für den zu beurteilenden Fall:
“Die hier interessierende Zahnverletzung infolge eines Zusammenstosses während einer Auto-Scooter-Fahrt lässt sich — anders als ein Zervikalsyndrom aus gleicher Ursache — ihrer Natur nach zweifelsfrei einem äusseren Faktor zuordnen. Zudem ist mit dem Anschlagen des Kopfes am Lenkrad ein sinnfälliges und nicht regelmässig bei Auto-Scooter-Fahrten vorkommendes Zusatzereignis gegeben, das für sich allein die Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründet.”
Und die Schlussfolgerung des Bundesgerichts:
“Die rechtliche Bestimmung des Kriteriums der Ungewöhnlichkeit besteht vorab darin, Unfälle von krankheitsbedingten Schädigungen der körperlichen oder psychischen Integrität abzugrenzen. An der Praxis, wonach das Unfallbegriffsmerkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors bei Zahnschäden verneint wird, die durch die Benützung von Auto-Scooter-Anlagen entstanden sind (oben E. 3.2), kann zufolge besserer Erkenntnis der ratio legis (E. 3.3) nicht länger festgehalten werden. Die I. zivilrechtliche Abteilung und die I. sozialrechtliche Abteilung haben dieser Änderung der Rechtsprechung zugestimmt (Art. 23 Abs. 1 BGG).”
Für all jene, die nicht wissen, was ein Autoscooter ist, hierzu die Erläuterung des Bundesgerichts:
“(je nach Dialektraum auch “Putschauto”, “Putschibahn” oder anders geheissen; vgl. dazu Ulrich Ammon et al., Variantenwörterbuch des Deutschen, Berlin/New York 2004, S. 707)”