K 136/06: Zahnschäden durch Autoscooter: Unfall (Änderung der Rsp.; amtl. Publ.)

Ein neun­jähriger Junge zog sich beim Autoscooter­fahren eine Schädi­gung der Zähne zu. Die Hel­sana, bei welch­er er oblig­a­torisch krankenpflege- und unfal­lver­sichert war, lehnte eine Deck­ung der Kosten ab, weil die Schaden­sur­sache kein Unfall sei. In Anbe­tra­cht der Bedeu­tung, welche die Wirkung eines äusseren Fak­tors aus­nahm­sweise für die Beurteilung sein­er Ungewöhn­lichkeit haben kann, ändert das BGer seine Recht­sprechung und qual­i­fiziert den Zahn­schaden als Unfall­folge.

Es war unbe­strit­ten, dass der Junge eine Kör­per­ver­let­zung durch eine plöt­zliche und unbe­ab­sichtigte äussere Ein­wirkung erlitt. Umstrit­ten war allein die erforder­liche Ungewöhn­lichkeit iSv ATSG 4.

Das BGer ver­weist (im erst drit­ten Urteil, in dem es aus Wikipedia zitiert; jew­eils die II. Sozial­rechtliche Abteilung) auf seine Recht­sprechung zu Autoscootern (Urteil vom 4. Novem­ber 2005 (K 90/03, RKUV 2006 Nr. KV 351 S. 3), wonach der Zusam­men­stoss von Auto-Scootern nichts Ungewöhn­lich­es darstelle:

Zweck der Vergnü­gungs­fahrt sei, sich einem unko­or­dinierten, unpro­gram­mierten und damit auch von vorn­here­in unkon­trol­lier­baren Bewe­gungsablauf auszuset­zen. Der gesamte Bewe­gungsablauf bilde eine Ein­heit. Daher könne auch die Störung der — durch den Auf­prall aus­gelösten — unkon­trol­lier­baren Bewe­gung des Kör­pers durch das Hin­der­nis Lenkrad nicht als Pro­grammwidrigkeit ange­se­hen wer­den, welche eine Ungewöhn­lichkeit begrün­den würde. Ein Anschla­gen des Kiefers liege nicht ausser­halb des Alltäglichen und Üblichen (…)”

Das BGer unterzieht Herkun­ft und Funk­tion des Ungewöhn­lichkeits­be­griffs ein­er gründlichen Unter­suchung und betont die Bedeu­tung, welche die Wirkung eines äusseren Fak­tors aus­nahm­sweise für seine Ungewöhn­lichkeit haben kann. Als Regel gilt zwar:

Nach der Recht­sprechung bezieht sich das Begriff­s­merk­mal der Ungewöhn­lichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Fak­tors, son­dern nur auf diesen sel­ber. Ohne Belang für die Prü­fung der Ungewöhn­lichkeit ist insoweit, dass der äussere Fak­tor allen­falls schw­er­wiegende, uner­wartete Fol­gen nach sich zog (…).”

Den­noch:

(…) Hinge­gen ist die Wirkung, das heisst die Natur des Gesund­heitss­chadens, mit Blick auf die Bedeu­tung des Abgren­zungskri­teri­ums im Einzelfall dur­chaus beachtlich.”

Dementsprechend:

Auch ausser­halb der unfal­lähn­lichen Kör­per­schädi­gun­gen kann es sich ergeben, dass von der Auswirkung eines von aussen betra­chtet reg­ulär ver­laufend­en Geschehens zwangsläu­fig auf einen tat­säch­lich ungewöhn­lichen Ver­lauf geschlossen wer­den muss.”

Daraus fol­gt für den zu beurteilen­den Fall:

Die hier inter­essierende Zah­n­ver­let­zung infolge eines Zusam­men­stoss­es während ein­er Auto-Scoot­er-Fahrt lässt sich — anders als ein Zervikalsyn­drom aus gle­ich­er Ursache — ihrer Natur nach zweifels­frei einem äusseren Fak­tor zuord­nen. Zudem ist mit dem Anschla­gen des Kopfes am Lenkrad ein sin­n­fäl­liges und nicht regelmäs­sig bei Auto-Scoot­er-Fahrten vork­om­mendes Zusatzereig­nis gegeben, das für sich allein die Ungewöhn­lichkeit des Geschehens begründet.”

Und die Schlussfol­gerung des Bundesgerichts:

Die rechtliche Bes­tim­mung des Kri­teri­ums der Ungewöhn­lichkeit beste­ht vor­ab darin, Unfälle von krankheits­be­d­ingten Schädi­gun­gen der kör­per­lichen oder psy­chis­chen Integrität abzu­gren­zen. An der Prax­is, wonach das Unfall­be­griff­s­merk­mal des ungewöhn­lichen äusseren Fak­tors bei Zahn­schä­den verneint wird, die durch die Benützung von Auto-Scoot­er-Anla­gen ent­standen sind (oben E. 3.2), kann zufolge besser­er Erken­nt­nis der ratio legis (E. 3.3) nicht länger fest­ge­hal­ten wer­den. Die I. zivil­rechtliche Abteilung und die I. sozial­rechtliche Abteilung haben dieser Änderung der Recht­sprechung zuges­timmt (Art. 23 Abs. 1 BGG).”

Für all jene, die nicht wis­sen, was ein Autoscoot­er ist, hierzu die Erläuterung des Bundesgerichts:

(je nach Dialek­traum auch “Putschau­to”, “Putschibahn” oder anders geheis­sen; vgl. dazu Ulrich Ammon et al., Vari­anten­wörter­buch des Deutschen, Berlin/New York 2004, S. 707)”