U 394/06: Adäquanzprüfung bei Schleudertraumata verschärft (amtl. Publ.)

Der Beschw­erde­führer hat­te gel­tend gemacht, die Adäquanzprü­fung sei zu früh erfol­gt, näm­lich zu einem Zeit­punkt, als noch “soma­tis­ches Verbesserungspo­ten­tial” vorhan­den war. Nach dem vor­liegen­den Urteil ist aber nicht danach zu fra­gen, son­dern danach, wann der Unfal­lver­sicher­er einen Fall abzuschliessen hat. Da hier ein Zusam­men­hang mit der Adäquanzprü­fung beste­ht, geht das BGer näher auf let­ztere ein. Vgl. auch die Pressemit­teilung des Bundesgerichts

10.3 Zusam­men­fassend ist der Kat­a­log der bish­eri­gen adäquanzrel­e­van­ten Kri­te­rien (BGE 117 V 359 E. 6a S. 367, 369 E. 4b S. 383; E. 10.2 hievor) wie fol­gt neu zu fassen:
- beson­ders drama­tis­che Beglei­tum­stände oder beson­dere Ein­drück­lichkeit des Unfalls;
- die Schwere oder beson­dere Art der erlit­te­nen Ver­let­zun­gen;
- fort­ge­set­zt spez­i­fis­che, belas­tende ärztliche Behand­lung;
- erhe­bliche Beschw­er­den;
- ärztliche Fehlbe­hand­lung, welche die Unfall­fol­gen erhe­blich ver­schlim­mert;
- schwieriger Heilungsver­lauf und erhe­bliche Kom­p­lika­tio­nen;
- erhe­bliche Arbeit­sun­fähigkeit trotz aus­gewiesen­er Anstrengungen.”

Es ver­wun­dert […] nicht, dass Ver­sicherte, wie das Bun­des­gericht in let­zter Zeit ver­mehrt fest­stellen kon­nte, dem Abschluss ihres Fall­es mit der Begrün­dung opponieren, die Adäquanz sei mit Blick auf die dauer­be­zo­ge­nen Kri­te­rien zu früh geprüft wor­den. […] Dieses Span­nungsver­hält­nis erfordert eine Über­prü­fung der Recht­sprechung zur Kausal­itäts­beurteilung bei organ­isch nicht objek­tiv aus­gewiese­nen Beschwerden.”

Diese Über­prü­fung bet­rifft nur die Schleud­er­traumaprax­is; bei den psy­chis­chen Fehlen­twick­lun­gen nach Unfall (Psy­cho-Prax­is) beste­ht laut dem vor­liegen­den Urteil dies­bezüglich kein Hand­lungs­be­darf. — Im Grund­satz will das BGer an der bish­eri­gen Adäquanzprü­fung der Schleud­er­trau­ma-Prax­is fes­thal­ten (einge­hende Aus­führun­gen in E. 7 ff.): 

Nach dem Gesagten beste­ht kein Anlass, das Beste­hen und die Auswirkun­gen der zur Diskus­sion ste­hen­den unfallbe­d­ingten Ver­let­zun­gen ohne organ­isch objek­tiv aus­gewiesene Beschw­er­den und das diese kennze­ich­nende Gemenge physis­ch­er und psy­chis­ch­er Symp­tome grund­sät­zlich in Frage zu stellen. Gle­ich­es gilt für die Konzep­tion ein­er beson­deren Adäquanzprü­fung für solche Verletzungen.”

Allerd­ings: Die physis­che Kom­po­nente, die ein Schleud­er­trau­ma nach der Recht­sprechung hat (“Gemenge physis­ch­er und psy­chis­ch­er Symp­tome”), ist nur schwierig festzustellen. Nach der Recht­sprechung müssen das Vor­liegen eines Schleud­er­trau­mas wie seine Fol­gen durch zuver­läs­sige ärztliche Angaben gesichert sein. Trifft dies zu und ist die natür­liche Kausal­ität auf­grund fachärztlich­er Fest­stel­lun­gen im konkreten Fall unbe­strit­ten, kann der natür­liche Kausalzusam­men­hangauch aus rechtlich­er Sicht als erstellt gel­ten. Diese Recht­sprechung, die auch für dem Schleud­er­trau­ma äquiv­a­lente Ver­let­zun­gen der HWS und Schädel-Hirn­trau­men gilt, über­prüft hier das BGer. 

Dabei sind die zwis­chen­zeitlich gewonnenen aktuellen medi­zinis­chen Erken­nt­nisse, namentlich die von Spezialärzten ver­schieden­er Fachrich­tun­gen erar­beit­eten Empfehlun­gen für ein ver­lauf­s­ab­hängiges diag­nos­tis­ches Vorge­hen, zu berücksichtigen.”

Wie das BGer aus­führt, ist der Unfall in ein­er ersten Phase möglichst genau und ver­i­fizier­bar zu doku­men­tieren. Der behan­del­nde Arzt ist gehal­ten, die ver­sicherte Per­son sorgfältig abzuk­lären, u.a. auch zum Vorzu­s­tand (psy­chis­che Beschw­er­den) zu befra­gen. Kommt der Arzt zur Auf­fas­sung, ein Schleud­er­trau­ma o.Ä. komme auf­grund zuver­läs­siger Anhalt­spunk­te nur als Ver­dachts- oder Dif­fer­en­tial­diag­nose in Frage, hat er dies in seinem Bericht zum Aus­druck zu brin­gen. Er hat fern­er auch den Ver­lauf der Beschw­er­den ab dem Unfal­lzeit­punkt genau zu beschreiben und gegebe­nen­falls Anhalt­spunk­te für einen pro­trahierten Ver­lauf und/oder ein Chronifizierungsrisiko anzuzeigen.

Beste­hen Beschw­er­den länger und ohne deut­liche Besserung­s­ten­denz, ist eine rasche inter­diszi­plinäre Abklärung und Beurteilung durch Fachärzte angezeigt. 

Zusam­men­fassend ist als Grund­lage für die Kausal­itäts­beurteilung bei den hier disku­tierten Ver­let­zun­gen neb­st ein­er den umschriebe­nen Anforderun­gen genü­gen­den Erstabklärung zu ver­lan­gen, dass eine einge­hende medi­zinis­che Abklärung (im Sinne eines polydisziplinären/interdisziplinären Gutacht­ens) bere­its in ein­er ersten Phase nach dem Unfall vorgenom­men wird, sofern und sobald Anhalt­spunk­te für ein län­geres Andauern oder gar eine Chronifizierung der Beschw­er­den bestehen.”

Eine solche Begutach­tung sei auch dann angezeigt, wenn die Beschw­er­den län­gere Zeit ange­hal­ten haben und nicht von ein­er baldigen wesentlichen Besserung aus­ge­gan­gen wer­den kann; sie sei i.d.R. nach rund sechs Monat­en Beschw­erde­per­sis­tenz zu ver­an­lassen.
Inhaltlich seien überzeu­gende Aus­sagen dazu erforder­lich, ob die Beschw­er­den über­haupt glaub­haft sind, und ob dafür (obwohl objek­tiv aus­gewiesene organ­is­che Unfall­fol­gen fehlen) ein Schleud­er­trau­ma der HWS oder eine äquiv­a­lente Ver­let­zung oder ein Schädel-Hirn­trau­ma mit über­wiegen­der Wahrschein­lichkeit zumin­d­est eine Teil­ur­sache darstellt. 

Auch Aus­sagen zur psy­chis­chen Ver­fas­sung des Geschädigten sind erforderlich: 

Auf­grund der Beson­der­heit­en der Schleud­er­trau­ma-Prax­is soll das Gutacht­en bei gefes­tigter Diag­nose auch darüber Auskun­ft geben, ob eine beste­hende psy­chis­che Prob­lematik als Teil des für solche Ver­let­zun­gen typ­is­chen, ein­er Dif­feren­zierung kaum zugänglichen soma­tisch-psy­chis­chen Beschw­erde­bildes zu betra­cht­en ist, oder aber ein von diesem zu tren­nen­des, eigen­ständi­ges psy­chis­ches Lei­den darstellt. Nur wenn in der Exper­tise überzeu­gend dar­ge­tan wird, dass die psy­chis­che Störung nicht Symp­tom der Ver­let­zung ist, kann dafür eine andere Ursache gese­hen wer­den. Der Hin­weis auf ungün­stige soziale und soziokul­turelle Ver­hält­nisse der ver­sicherten Per­son und der­gle­ichen genügt nicht. Weit­er ist zu beant­worten, inwieweit die Arbeits­fähigkeit in der bish­eri­gen und (mit Blick auf eine allfäl­lige Beren­tung) in alter­na­tiv­en Tätigkeit­en durch die fest­gestell­ten natür­lich unfal­lka­usalen Lei­den eingeschränkt ist.”

Die wichtig­sten Adäquanzkri­te­rien sind fol­gende:
- beson­ders drama­tis­che Beglei­tum­stände oder beson­dere Ein­drück­lichkeit des Unfalls;
- die Schwere oder beson­dere Art der erlit­te­nen Ver­let­zun­gen;
- ungewöhn­lich lange Dauer der ärztlichen Behand­lung;
- Dauerbeschw­er­den;
- ärztliche Fehlbe­hand­lung, welche die Unfall­fol­gen erhe­blich ver­schlim­mert;
- schwieriger Heilungsver­lauf und erhe­bliche Kom­p­lika­tio­nen;
- Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit.

Die Über­prü­fung dieser Kri­te­rien durch das BGer ergibt Folgendes:

1. Beson­ders drama­tis­che Beglei­tum­stände: Keine Änderung;
2. Schwere und beson­dere Art der
erlit­te­nen Ver­let­zung: das Kri­teri­um wird beibehal­ten; allerd­ings genügt die Diag­nose ein­er HWS-Dis­tor­sion o.Ä. für sich allein nicht zur Bejahung des Kri­teri­ums der Schwere und beson­deren Art der erlit­te­nen Ver­let­zung (Näheres: E. 10.2.2.);
3. Ungewöhn­lich lange Dauer der ärztlichen Behand­lung: Neu­fas­sung als “fort­ge­set­zt spez­i­fis­che, belas­tende ärztliche Behand­lung”; d.h. es ist entschei­dend, ob nach dem Unfall fort­ge­set­zt eine spez­i­fis­che, die ver­sicherte Per­son belas­tende ärztliche Behand­lung bis zum Fal­lab­schluss notwendig war.
4. Dauerbeschw­er­den: Neu­fas­sung als “erhe­bliche Beschw­er­den”, d.h. adäquanzrel­e­vant sind nur in der Zeit zwis­chen dem Unfall und dem Fal­lab­schluss (UVG 19 I) ohne wesentlichen Unter­bruch beste­hende erhe­bliche Beschw­er­den; die Erhe­blichkeit beurteilt sich nach den glaub­haften Schmerzen und nach der Beein­träch­ti­gung, welche die verun­fallte Per­son durch die Beschw­er­den im Leben­sall­t­ag erfährt.
5. Ärztliche Fehlbe­hand­lung: keine Änderun­gen.
6. Schwieriger Heilungsver­laufs und erhe­bliche Komplikationen:keine Änderun­gen.
7. Grad und Dauer der Arbeit­sun­fähigkeit: Hier beste­ht ein neg­a­tiv­er Anreiz, die Arbeit nicht möglichst rasch wieder aufzunehmen; län­geres Aus­set­zen der Arbeit fördert überdies die Chronifizierung der Beschw­er­den. Das Kri­teri­um ist daher fol­gen­der­massen neu zu fassen: erhe­bliche Arbeit­sun­fähigkeit trotz aus­gewiesen­er Anstrengungen.

Die Recht­sprechung zu leicht­en, mit­tleren und schw­eren Unfällen ist beizubehalten.