1C_510/2010: Opferhilfe; Informationspflicht gegenüber Angehörigen von Vertragsstaaten aufgrund Diskriminierungsverbot gemäss FZA (amtl. Publ.)

In dem zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 1C_510/2010 vom 24. März 2011 heisst das Bun­des­gericht eine Beschw­erde gegen die Abweisung eines Gesuchs um Entschädi­gung und Genug­tu­ung nach dem Art. 11 Abs. 3 aOHG. Die Beschw­erde­führerin ist Staat­sange­hörige der Repub­liken Öster­re­ich und Philip­pinen; sie wohnt seit 2001 in der Schweiz. Drei Jahre später wurde sie Opfer eines Raubüber­falls in Mani­la (Philip­pinen), wobei sie eine Schussver­let­zung erlitt. Sie machte gel­tend, dass sie etwa einen Monat später mit der Schweiz­er Vertre­tung in Mani­la über den Über­fall gesprochen habe, sie aber nicht über ihre Ansprüche auf Opfer­hil­fe informiert wor­den sei. Die von der Vorin­stanz angenommene Ver­wirkung der Ansprüche, die sie nicht inner­halb der zwei­jähri­gen Frist nach Art. 16 Abs. 3 aOHG gel­tend gemacht habe, könne ihr deshalb nicht ent­ge­genge­hal­ten werden.

Zunächst legt das Bun­des­gericht dar, warum die Beschw­erde­führerin, auch wenn sie nicht über die schweiz­erische Staats­bürg­er­schaft ver­füge, grund­sät­zlich Opfer­hil­fe beanspruchen kann, sofern auch alle anderen Voraus­set­zun­gen gegeben seien. Die Beschw­erde­führerin sei als öster­re­ichis­che Staat­sange­hörige auf­grund des Freizügigkeitsabkom­mens (FZA) wie eine schweiz­erische Staat­sange­hörige zu behan­deln (E. 3.2.1 f.):

3.2.1 […] Gemäss Art. 2 FZA wer­den die Staat­sange­höri­gen ein­er Ver­tragspartei, die sich recht­mäs­sig im Hoheits­ge­bi­et ein­er anderen Ver­tragspartei aufhal­ten, bei der Anwen­dung dieses Abkom­mens gemäss den Anhän­gen I, II und III nicht auf Grund ihrer Staat­sange­hörigkeit diskri­m­iniert (Nicht­diskri­m­inierung). […] Soweit das Diskri­m­inierungsver­bot gilt, ist es den Ver­tragsstaat­en ver­wehrt, die Gewährung eines Rechts an eine Per­son, die sich in ein­er durch das Freizügigkeitsabkom­men geregel­ten Sit­u­a­tion befind­et, von der Staat­sange­hörigkeit des betr­e­f­fend­en Staates abhängig zu machen. […] Im Fall Cow­an hat der EuGH in Anwen­dung des all­ge­meinen Diskri­m­inierungsver­bots (Art. 7 EWG-Ver­trag) entsch­ieden, die Gewährung der staatlichen Entschädi­gung des Schadens infolge ein­er Gewalt­tat dürfe nicht davon abhängig gemacht wer­den, dass die Per­son, der das Gemein­schaft­srecht ins­beson­dere die Ein­reise als Dien­stleis­tungsempfänger garantiere, Inhab­er ein­er Frem­denkarte oder Ange­hörige eines Staates sei, der ein Gegen­seit­igkeitsabkom­men mit diesem Mit­glied­staat geschlossen hat (Urteil des EuGH vom 2. Feb­ru­ar 1989 186/87 Cow­an, Slg. 1989 195 Rand­nr. 20; […]).
3.2.2 […] Die Opfer­hil­fe ist geeignet, die Mobil­ität inner­halb der Gemein­schaft im Sinne der Recht­sprechung des EuGH zu erle­ichtern. Sie stellt dem­nach eine soziale Vergün­s­ti­gung nach Art. 9 Abs. 2 Anhang I FZA dar. Es gilt das Diskri­m­inierungsver­bot nach Art. 2 FZA. Für das Recht auf Opfer­hil­fe fol­gt daraus, dass kein Unter­schied zwis­chen Schweiz­er Staat­sange­höri­gen und den Ange­höri­gen der Ver­tragsstaat­en gemacht wer­den darf […]. Im Anwen­dungs­bere­ich des Freizügigkeitsabkom­mens sind hin­sichtlich der Opfer­hil­fe Ange­hörige der Ver­tragsstaat­en Schweiz­er Staat­sange­höri­gen gleichzustellen. […]

Anschliessend weist das bun­des­gerichtliche Urteil darauf hin, dass die Botschaften auf­grund der “Weisung des Bun­de­samtes für Jus­tiz an die schweiz­erischen Vertre­tun­gen im Aus­land betr­e­f­fend die Hil­fe an Opfer von Straftat­en” vom 14. April 2000 verpflichtet seien, Opfer von Straftat­en über ihre Ansprüche zu informieren. Ein Opfer muss sich daher die Ver­wirkungs­frist nach Treu und Glauben nicht ent­ge­gen­hal­ten lassen, wenn es von den Behör­den unter Ver­let­zung ihrer geset­zlichen Infor­ma­tion­spflicht­en nicht über die ihm auf­grund des Opfer­hil­fege­set­zes zuste­hen­den Ansprüche informiert wurde, denn die Aufk­lärungspflicht­en bilden im Sys­tem der Opfer­hil­fe das Kor­re­lat zur rel­a­tiv kurzen Verwirkungsfrist (…):

4.3 Eine aus­drück­liche geset­zliche Infor­ma­tion­spflicht beste­ht gemäss Art. 3 Abs. 2 aOHG und Art. 6 Abs. 1 aOHG für die Beratungsstellen und die Polizei anlässlich der ersten Ein­ver­nahme. Indessen kön­nen auch Weisun­gen der admin­is­tra­tiv­en Auf­sichts­be­hör­den eine Aufk­lärungspflicht begrün­den (Entscheid des Eid­genös­sis­chen Ver­sicherungs­gerichts vom 26. Mai 2000 H 199/99 E. 3b). Die in Frage ste­hen­den Weisun­gen wur­den zwar formell vom EJPD bzw. vom Bun­de­samt für Jus­tiz erlassen. Doch ergibt sich aus einem Schreiben des Bun­de­samtes für Jus­tiz vom 14. April 2000 an die Botschaften und Kon­sulate der Schweiz im Aus­land, dass das Bun­de­samt für Jus­tiz “in enger Zusam­me­nar­beit mit dem Departe­ment für auswär­tige Angele­gen­heit­en eine Infor­ma­tions­broschüre für die Opfer von Straftat­en und ihre Ange­höri­gen ver­fasst sowie Weisun­gen zu Ihren Han­den aus­gear­beit­et hat”. Insoweit han­delt es sich dur­chaus um eine Infor­ma­tion­spflicht begrün­dende Weisun­gen der admin­is­tra­tiv­en Auf­sichts­be­hörde. Die Weisun­gen haben zum Ziel, dass Per­so­n­en mit Anspruch auf Opfer­hil­fe über ihre Rechte informiert wer­den. […] Beste­ht auf­grund der Weisun­gen eine Infor­ma­tion­spflicht der Vertre­tung gegenüber Schweiz­er Staat­sange­höri­gen, muss das im Anwen­dungs­bere­ich des Freizügigkeitsabkom­mens auf­grund des Diskri­m­inierungsver­bots auch gegenüber Ange­höri­gen der Ver­tragsstaat­en gel­ten (E. 3.2).

Im vor­liegen­den Fall bedurfte der Sachver­halt weit­er­er Abklärun­gen, ob die Schweiz­er Vertre­tung über­haupt Anlass hat­te, der Beschw­erde­führerin die notwendi­gen Infor­ma­tio­nen zukom­men zu lassen, weshalb die Sache an die Vorin­stanz zurück­gewiesen wurde.