1B_1/2011: Einstellung des Verfahrens; Strafbarkeit bei Rückwärtsfahren

Eine Beschw­erde­führerin hat sich vor dem Bun­des­gericht mit dem Erfolg gegen die Ein­stel­lung ein­er Stra­fun­ter­suchung gewehrt, um die strafrechtliche Ver­fol­gung ihres Unfall­geg­n­ers, den Fahrer eines Last­wa­gens, zu erre­ichen (Urteil 1B_1/2011 vom 20. April 2011). Der Fahrer eines Last­wa­gens war rück­wärts auf eine Strasse gefahren und mit ihr kol­li­diert, wobei sie zahlre­iche Ver­let­zun­gen erlit­ten hatte.

Das Bun­des­gericht nen­nt die Voraus­set­zun­gen für die Verfahrenseinstellung:

4. […] Bei der Frage, ob ein Strafver­fahren über eine (defin­i­tive) Ver­fahren­se­in­stel­lung durch die Unter­suchungs­be­hörde erledigt wer­den kann, gilt im schweiz­erischen Straf­prozess­recht der Grund­satz “in dubio pro duri­ore”. Danach darf eine Ein­stel­lung durch die Staat­san­waltschaft nur bei klar­er Straflosigkeit bzw. offen­sichtlich fehlen­den Prozessvo­raus­set­zun­gen erfol­gen […]. In Zweifels­fällen hat hinge­gen eine Anklage und gerichtliche Beurteilung zu erfol­gen (sofern der Fall nicht mit Straf­be­fehl erledigt wer­den kann). Auch nach neuer Eidg. StPO gilt dieser Grund­satz, der zwar nicht aus­drück­lich im Gesetz geregelt ist, sich aber indi­rekt aus Art. 324 Abs. 1 i.V.m. Art. 319 Abs. 1 StPO ergibt (vgl. Botschaft StPO, BBl 2006 S. 1273 […]).


In casu habe die Vorin­stanz überse­hen, dass eine Straf­barkeit des Beschuldigten wegen ein­er SVG-Wider­hand­lung (Art. 90 SVG) und fahrläs­siger Kör­per­ver­let­zung (Art. 125 StGB) in Betra­cht kommt, weil […]

5.3 […] zum “geset­zlich vorgeschriebe­nen Sorgfalts­massstab beim Rück­wärts­fahren” eine beson­dere Aufmerk­samkeit gegenüber dem her­an­na­hen­den Verkehr gehört sowie die Gewährung des Vor­trittsrechts gegenüber allen übri­gen Verkehrsteil­nehmern (vgl. Art. 36 Abs. 4 SVG und Art. 17 VRV i.V.m. Art. 90 SVG; s. auch Urteile des Bun­des­gericht­es 6P.104/2005 vom 27. Okto­ber 2005 E. 1–2; 6S.691/2001 vom 9. Sep­tem­ber 2002 E. 3.2 […]). Zudem kann sich bei beson­ders gefährlichen Manövern, zu denen ins­beson­dere das Rück­wärts­fahren mit Last­wa­gen in eine Kreuzung (zumal bei eingeschränk­ter Sicht) zu rech­nen ist, der Beizug ein­er Hil­f­sper­son zur Sicherung und War­nung der Verkehrsteil­nehmer auf­drän­gen (vgl. Art. 17 Abs. 1 Satz 2 VRV).

Es beste­ht somit ein Zweifels­fall im Hin­blick auf die Strafbarkeit:

5.5 Nach dem Gesagten liegt hier kein klar­er Fall der Straflosigkeit vor, der mit Ver­fahren­se­in­stel­lung durch die Staat­san­waltschaft erledigt wer­den kön­nte. Ein gerichtlich­er Freis­pruch ist nicht “mit grösster Wahrschein­lichkeit” zu erwarten. […] Die Straf­sache wird daher, falls sie nicht mit Straf­be­fehl erledigt wer­den kann, von der Staat­san­waltschaft anklageweise an das zuständi­ge erstin­stan­zliche Strafgericht zu über­weisen sein.