6B_1039/2010: Notwehrexzess; Verhältnismässigkeit der Notwehrhandlung

Das Bun­des­gericht hat­te über einen „Lehrbuch­fall“, der in der Prax­is sel­ten anzutr­e­f­fen ist, zu entschei­den (Urteil 6B_1039/2010 vom 16. Mai 2011): mehrfach ver­suchte Tötung im Notwehrexzess gemäss Art. 111 i.V.m. 22 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 StGB. Die Vorin­stanz war zu dem Schluss gekom­men, dass der Beschw­erde­führer bei ein­er gewalt­täti­gen Auseinan­der­set­zung mit vier Angreifern die Gren­zen der erlaubten Notwehr bei weit­em über­schrit­ten habe, als er mit mehreren tiefen Messer­stichen nicht gegen diejenige Per­son zielte, welche ihm mehrmals mit ein­er Flasche auf den Kopf geschla­gen hat­te. Die Beschw­erde wurde abgewiesen.

Der Beschw­erde­führer befand sich unbe­strit­ten­er­massen in ein­er Notwehrsi­t­u­a­tion, als er sich mit dem Mess­er zur Wehr set­zte. Zu prüfen war hinge­gen die Ver­hält­nis­mäs­sigkeit der Notwehrhand­lung, die nach der Gesamtheit der Umstände zu beurteilen ist:

2.1.3 […] Eine Rolle spie­len vor allem die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedro­ht­en Rechts­güter, die Art des Abwehrmit­tels und dessen tat­säch­liche Ver­wen­dung. Die Angemessen­heit der Abwehr ist auf­grund jen­er Sit­u­a­tion zu beurteilen, in der sich der rechtswidrig Ange­grif­f­ene im Zeit­punkt sein­er Tat befand. Beson­dere Zurück­hal­tung ist bei der Ver­wen­dung von gefährlichen Werkzeu­gen zur Abwehr (Mess­er, Schuss­waf­fen etc.) geboten, da deren Ein­satz stets die Gefahr schw­er­er oder gar tödlich­er Ver­let­zun­gen mit sich bringt. Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit weniger gefährlichen und zumut­baren Mit­teln hätte abgewen­det wer­den kön­nen, der Täter wom­öglich gewarnt wor­den ist und der Abwehrende vor der Benutzung des gefährlichen Werkzeugs das Nötige zur Ver­mei­dung ein­er über­mäs­si­gen Schädi­gung vorgekehrt hat. Auch ist eine Abwä­gung der auf dem Spiel ste­hen­den Rechts­güter uner­lässlich. Doch muss deren Ergeb­nis für den Ange­grif­f­e­nen, der erfahrungs­gemäss rasch han­deln muss, müh­e­los erkennbar sein (BGE 136 IV 49 E. 3.2 und 3.3 S. 51 f. mit Hinweisen).

Der Beschw­erde­führer brachte erfol­g­los vor, dass Bun­des­gericht habe in einem kür­zlich veröf­fentlicht­en Entscheid (BGE 136 IV 49) die Abwehr eines Ange­grif­f­e­nen, welch­er sich mit einem Mess­er gegen Faustschläge und Fusstritte von zwei Per­so­n­en gewehrt hat­te, als zuläs­sig erachtet.

2.1.4 […] Das Bun­des­gericht erwog, für den Ange­grif­f­e­nen habe das Risiko bestanden, im Laufe der Auseinan­der­set­zung erhe­bliche Kör­per­ver­let­zun­gen davonzu­tra­gen. Unter diesen Umstän­den erscheine der Messere­in­satz als solch­er nicht von vorn­here­in unzuläs­sig. Der Angreifer sei allerd­ings beim Ein­satz des Messers zu beson­der­er Zurück­hal­tung verpflichtet (vgl. BGE 136 IV 49 E. 4.2 S. 53 mit Hin­weisen). Im vor­liegen­den Fall hat der Beschw­erde­führer sein Mess­er nicht zurück­hal­tend einge­set­zt. Selb­st wenn er keine Möglichkeit hat­te, die Angreifer zu war­nen bzw. sich mit einem geziel­ten Stich gegen ein Bein oder einen Arm zu wehren, hätte er zuerst einen einzi­gen Stich in den unteren und somit weniger ver­let­zlichen Kör­per­bere­ich ein­er der Angreifer aus­führen kön­nen. Der Beschw­erde­führer hat jedoch direkt sieben­mal wuchtig gegen den Bere­ich des Oberkör­pers der bei­den Geschädigten gestochen.