5A_429/2011: (Zulässige) Auswechslung der Gerichtspräsidentin; rechtliches Gehör und verfassungsmässiger Richter

Im Urteil 5A_429/2011 vom 9. August 2011 hat sich das Bun­des­gericht mit der Frage beschäftigt, ob die Auswech­slung ein­er Gericht­spräsi­dentin während eines hängi­gen Zivil­prozess­es oder allen­falls ab einem bes­timmten Ver­fahrenssta­di­um die Garantie des ver­fas­sungsmäs­si­gen Gerichts (Art. 30 Abs. 1 BV) oder den Anspruch auf rechtlich­es Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) ver­let­zt. Die Beschw­erde­führerin, die gegen die Ungültigerk­lärung ein­er Enter­bung (vgl. Art. 477 ff. ZGB) vorge­gan­gen ist, war mit ihrer Rüge nicht erfolgreich.

Ob eine nachträglich Änderung im ein­mal gebilde­ten Spruchkör­p­er zuläs­sig ist, hat die ältere Recht­sprechung als Ver­let­zung des Anspruchs auf rechtlich­es Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) geprüft:

3.2 […] Danach haben die Prozess­parteien einen Anspruch darauf, dass kein Gerichtsmit­glied urteilt, das nicht Ken­nt­nis von ihren Vor­brin­gen und vom Beweisver­fahren hat. Der Anspruch auf rechtlich­es Gehör ist deshalb ver­let­zt und das Ver­fahren (ganz oder teil­weise) zu wieder­holen, wenn nicht alle an der Beurteilung beteiligten Gerichtsmit­glieder an der auss­chliesslich mündlichen, in keinem Pro­tokoll fest­ge­hal­te­nen Beweis­ab­nahme mit­gewirkt haben. Er ist umgekehrt gewahrt, soweit dem an der Beurteilung neu teil­nehmenden Gerichtsmit­glied der Prozessstoff durch Akten­studi­um zugänglich gemacht wer­den kann und dadurch alle am Urteil mitwirk­enden Gerichtsmit­glieder die gle­ichen Ken­nt­nisse haben (vgl. BGE 96 I 321 E. 2b und 2c S. 323 f.; 117 Ia 133 E. 1e S. 134 f.).

Nach der neueren Recht­sprechung kann auch der Anspruch auf ein durch Gesetz geschaf­fenes Gericht ver­let­zt sein (Art. 30 Abs. 1 BV), wenn die Zusam­menset­zung des Spruchkör­pers im Ver­lauf des Ver­fahrens ohne hin­re­ichende sach­liche Gründe geän­dert wird:

3.2 […] Eine Verän­derung der Beset­zung ist einzelfall­be­zo­gen zuläs­sig, wenn etwa ein Mit­glied des Gerichts aus Alters­grün­den auss­chei­det oder wegen ein­er länger dauern­den Krankheit sein Amt nicht ausüben kann (vgl. Urteil 6P.102/2005 vom 26. Juni 2006 E. 2.2 […]), unzuläs­sig hinge­gen, wenn zum Beispiel ein Gerichtsmit­glied, das die Parteien nicht ange­hört hat und sich über deren Vor­brin­gen nicht durch ein Pro­tokoll hat unter­richt­en kön­nen, am Urteilsspruch beteiligt war (vgl. Urteil 4P.163/2005 vom 6. Sep­tem­ber 2005 E. 4 […]).

Im vor­liegen­den Fall hat­te die Beschw­erde­führerin bean­standet, dass während des bezirks­gerichtlichen Ver­fahrens und dabei nach Abschluss der Beweis­ab­nahme an der Hauptver­hand­lung die prozesslei­t­ende Bezirks­gericht­spräsi­dentin aus­gewech­selt wor­den war. Diese hat­te einen Mut­ter­schaft­surlaub von 16 Wochen bezo­gen. Die Stel­lvertreterin kon­nte sich (anhand der Akten und der Pro­tokolle über die Beweisver­hand­lung sowie der Aus­sagen von Zeu­gen und Parteien) über den Stand des Ver­fahrens informieren. Die voll­ständi­ge Aus­fer­ti­gung des Urteils etwa acht Monate nach dessen Beratung und Aus­fäl­lung wurde wiederum von der Präsi­dentin unterze­ich­net, weil deren Schwanger­schaft­surlaub in der Zwis­chen­zeit been­det und die Stel­lvertreterin nicht mehr im Amt gewe­sen war.

Nach dem Bun­des­gericht durfte die Vorin­stanz hier einen sach­lichen Grund im Schwanger­schaft­surlaub der Präsi­dentin sehen mit Rück­sicht auf die Bedeu­tung, die der Geset­zge­ber dem Mut­ter­schaft­surlaub beimisst, z.B. in Art. 329f OR (E. 3.4.1). Das Bezirks­gericht hat mit dem Urteil auch nicht bis zur Rück­kehr der Bezirks­gericht­spräsi­dentin aus dem Mut­ter­schaft­surlaub zuwarten dür­fen, da die Beschw­erdegeg­n­er als Kläger gemäss Art. 29 Abs. 1 BV einen Anspruch haben auf Beurteilung innert angemessen­er Frist. Das Bun­des­gericht leit­et daraus ab, dass die Ein­stel­lung eines Ver­fahrens die Aus­nahme sein soll und demzu­folge im Zweifels­fall das ver­fas­sungsmäs­sige Beschle­u­ni­gungs­ge­bot ent­ge­gen­ste­hen­den Inter­essen vorge­ht (E. 3.4.2). Es kommt hinzu, dass hier keine Einzel­rich­terin zu entschei­den hat­te, son­dern ein fün­fköp­figes Kol­le­gial­gericht. Vier Gerichtsmit­glieder waren an der Hauptver­hand­lung anwe­send und kon­nten direkt Zusatzfra­gen an die Zeu­gen und Parteien stellen (E. 3.4.5).