6B_180/2011: Zusatzstrafe und Gesamtstrafe; retrospektive Konkurrenz, Asperationsprinzip und Kumulationsprinzip (amtl. Publ.)

Erneut beschäftigt sich das Bun­des­gericht in einem für die amtliche Samm­lung vorge­se­henen Urteil vom 5. April 2012 (6B_180/2011) mit der Zusatzs­trafe und der Gesamtstrafe.

Muss ein Gericht Delik­te beurteilen, die der Täter began­gen hat, bevor er wegen ander­er Straftat­en verurteilt wurde, ist eine ZUSATZSTRAFE gemäss Art. 49 Abs. 2 StGB so zu bes­tim­men, dass der Täter nicht schw­er­er bestraft wird, als wenn die straf­baren Hand­lun­gen gle­ichzeit­ig beurteilt wor­den wären.

Diese Bes­tim­mung soll das Asper­a­tionsprinzip auch bei ret­ro­spek­tiv­er Konkur­renz gewährleisten:

3.4.1 […] Der Täter, der mehrere Frei­heitsstrafen ver­wirkt hat, soll nach einem ein­heitlichen, für ihn rel­a­tiv gün­sti­gen Prinzip der Straf­schär­fung beurteilt wer­den, unab­hängig davon, ob die Ver­fahren getren­nt durchge­führt wer­den oder nicht. Der Täter soll damit trotz Aufteilung der Strafver­fol­gung in mehrere Ver­fahren gegenüber jen­em Täter, dessen Tat­en gle­ichzeit­ig beurteilt wur­den, nicht benachteiligt und soweit als möglich auch nicht bess­er gestellt wer­den (BGE 132 IV 102 E. 8.2 mit Hin­weisen). Für das Vorge­hen bei der Fest­set­zung der Zusatzs­trafe bei ret­ro­spek­tiv­er Konkur­renz kann auf die aus­führliche Recht­sprechung ver­wiesen wer­den (BGE 132 IV 102 E. 8; 129 IV 113 E. 1.1 […]).

Für die Frage, ob über­haupt und in welchem Umfang das Gericht eine Zusatzs­trafe aussprechen muss, ist auf das Datum der ersten Verurteilung im ersten Ver­fahren abzustellen, während für die Bemes­sung und die Höhe der Zusatzs­trafe das recht­skräftige Urteil im ersten Ver­fahren mass­gebend ist:

3.4.2 […] Das Gericht muss sich in einem ersten Schritt somit fra­gen, ob die neue Tat vor der ersten Verurteilung im ersten Ver­fahren began­gen wurde. Bejaht es dies, hat es eine Zusatzs­trafe auszus­prechen, für deren Bemes­sung es in einem zweit­en Schritt prüfen muss, ob der Schuld­spruch und das Straf­mass des ersten Urteils recht­skräftig sind. Verneint es die erste Frage, ist das neue Delikt mit ein­er selb­ständi­gen Strafe zu ahnden […].

Für die Anwend­barkeit des Asper­a­tionsprinzips ist es uner­he­blich, ob später das Urteil der ersten Instanz oder das Urteil der Rechtsmit­telin­stanz in Recht­skraft erwächst, oder ob nach ein­er Kas­sa­tion des erst- oder zweitin­stan­zlichen Urteils gar neu entsch­ieden wer­den muss:

3.4.3 […] Mass­ge­blich für die Anwen­dung des Asper­a­tionsprinzips ist damit, ob die zweite Tat vor der ersten Verurteilung im ersten Ver­fahren verübt wurde. Ist diese Voraus­set­zung nicht erfüllt, kommt Art. 49 StGB auch im Rah­men ein­er allfäl­li­gen nachträglichen Ver­fahrensvere­ini­gung (welch­er unter der am 1. Jan­u­ar 2011 in Kraft getrete­nen StPO ohne­hin enge Gren­zen geset­zt sind, vgl. Art. 34 Abs. 2, Art. 333 Abs. 2 und 3 StPO; BBl 2006 1142 und 1281; dazu auch BGE 135 III 334 E. 2 […]) nicht zum Tra­gen, d.h. es sind ungeachtet der späteren Ver­fahrensvere­ini­gung selb­ständi­ge Strafen auszus­prechen, da es um einen Fall von ret­ro­spek­tiv­er Konkur­renz geht und ver­fahrenslei­t­ende Entschei­de betr­e­f­fend die Ver­fahrensvere­ini­gung keinen Ein­fluss auf die Strafhöhe haben können.

Eine GESAMTSTRAFE kann auch bei Wider­ruf des bed­ingten Vol­lzugs ein­er früheren Strafe gemäss Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB oder bei Nicht­be­währung nach bed­ingter Ent­las­sung aus dem Strafvol­lzug gemäss Art. 89 Abs. 6 StGB aus­ge­sprochen werden.

Art. 46 StGB bet­rifft die erneute Straf­fäl­ligkeit während der für eine (teil-)bedingte Strafe ange­set­zten Probezeit:

4. […] Die Bil­dung ein­er Gesamt­strafe bei Wider­ruf des (teil-)bedingten Vol­lzugs ist von vorn­here­in aus­geschlossen, wenn die wider­rufene und die neue Strafe gle­ichar­tig sind (BGE 134 IV 241 E. 4).

Art. 89 StGB regelt die Fol­gen der Nicht­be­währung des bed­ingt aus dem Strafvol­lzug Ent­lasse­nen:

4. […] Der Geset­zge­ber wollte mit Art. 89 Abs. 6 StGB dem Täter in sin­ngemäss­er Anwen­dung des Asper­a­tionsprinzips – im Ver­gle­ich zum Kumu­la­tion­sprinzip – eine gewisse Priv­i­legierung gewähren, wenn zwei Frei­heitsstrafen zum Vol­lzug anste­hen (vgl. BGE 135 IV 146 E. 2.4). Die Bes­tim­mung gelangt jedoch nur zur Anwen­dung, wenn das Gericht nach ein­er bed­ingten Ent­las­sung über die Rück­ver­set­zung befind­en muss und eine unbe­d­ingte Frei­heitsstrafe mit einem durch Wider­ruf vol­lziehbaren Strafrest zusam­men­trifft. Bei ein­er erneuten Delin­quenz nach der bed­ingten Ent­las­sung muss unter Umstän­den daher eine Gesamt­strafe aus­ge­sprochen wer­den, während bei zusät­zlichen, in der Zeit zwis­chen dem Ersturteil und dem Vol­lzug der ersten Strafe verübten Tat­en das Kumu­la­tion­sprinzip zur Anwen­dung gelangt.

Im vor­liegen­den Fall weist das Bun­des­gericht die Beschw­erde sowie das Gesuch um unent­geltliche Rech­stpflege und Ver­beistän­dung ab, obwohl die Gesamt­strafe durch die Vorin­stanz zu Unrecht aus­ge­fällt wor­den ist.