6B_218/2015: Überspitzter Formalismus bei Nichteintreten auf Berufung wegen Unterschrift durch Kanzleimitarbeiterin (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht hat seine langjährige Recht­sprechung zur formellen Rechtsver­weigerung bei Nichtein­treten auf Rechtsmit­tel wegen fehlen­der Unter­schrift bestätigt und konkretisiert (6B_218/2015; amtl. Publ.).

Die Vorin­stanz hat­te fest­ge­hal­ten, die Beru­fung der Beschw­erde­führerin habe nicht die Unter­schrift ihres Rechtsvertreters oder ein­er anderen vertre­tungs­berechtigten Per­son getra­gen, son­dern sei von ein­er Kan­zleim­i­tar­bei­t­erin des Rechtsvertreters wegen dessen ferienbe­d­ingter Abwe­sen­heit unterze­ich­net wor­den. Dieser Man­gel sei nicht inner­halb ein­er Nach­frist nicht heil­bar gewe­sen. Die Ein­re­ichung ein­er Beru­fungserk­lärung, welche lediglich die Unter­schrift ein­er nicht unter­schrifts­berechtigten Per­son trägt, sei dem Fall ein­er fehlen­den oder lediglich kopierten Unter­schrift gle­ichzuset­zen. In allen Fällen fehle die eine gültige Unterzeichnung. 

Das Bun­des­gericht ver­weist auf ältere Entschei­de, wonach ein Gericht verpflichtet ist, die betr­e­f­fende Partei auf den Man­gel aufmerk­sam zu machen und dessen Verbesserung zu ver­lan­gen, wenn bei ein­er Rechtsmit­tel­erk­lärung ein sofort erkennbar­er Form­fehler wie das Fehlen ein­er gülti­gen Unter­schrift fest­gestellt wird und die Rechtsmit­tel­frist noch nicht ver­strichen ist. Wenn der Man­gel der Unter­schrift so früh erkan­nt wor­den ist, dass der Fehler bei entsprechen­dem Hin­weis innert Frist verbessert wer­den kann, ver­let­zt das Stillschweigen der Behör­den Art. 29 Abs. 1 BV (BGE 111 Ia 169 E. 4c S. 174 f.). Sie sind verpflichtet, den Ver­fass­er ein­er Rechtsmit­telschrift auf das Fehlen der Unter­schrift aufmerk­sam zu machen, solange die noch ver­füg­bare Zeit bis zum Ablauf der Rechtsmit­tel­frist aus­re­iche, um den Man­gel zu beheben (BGE 114 Ia 20 E. 2b S. 24).

Noch auf der Grund­lage des rev­i­dierten Art. 30 Abs. 2 OG entsch­ied das Bun­des­gericht weit­er, kan­tonale Gerichte han­del­ten gegen Treu und Glauben, wenn sie ein nicht oder von ein­er nicht zur Vertre­tung berechtigten Per­son unterze­ich­netes Rechtsmit­tel als unzuläs­sig beurteil­ten, ohne eine kurze, gegebe­nen­falls über die geset­zliche Rechtsmit­tel­frist hin­aus­ge­hende Nach­frist für die gültige Unterze­ich­nung anzuset­zen. Es habe bei fehlen­der gültiger Unter­schrift eine angemessene Frist zur Behe­bung des Man­gels anzuset­zen. Denn die Möglichkeit der Nach­fris­tanset­zung nach Art. 30 Abs. 2 OG für das bun­des­gerichtliche Ver­fahren ist ein Aus­druck eines aus dem Ver­bot des über­spitzten For­mal­is­mus fliessenden all­ge­meinen prozes­sualen Rechts­grund­satzes, der auch im kan­tonalen Ver­fahren Gel­tung habe (BGE 120 V 413 E. 6a S. 419).

Später präzisierte das Bun­des­gericht, der Anspruch auf eine Nach­frist beste­he nur bei unfrei­willi­gen Unter­las­sun­gen, weil son­st eine andere Regel­widrigkeit in Form der Nicht­beach­tung der Frist zuge­lassen würde (BGE 121 II 252 E. 4b S. 255 f.). Ausgenom­men von der Nach­fris­tanset­zung sind somit Fälle des offen­sichtlichen Rechtsmiss­brauchs. Auf einen solchen Miss­brauch läuft es etwa hin­aus, wenn ein Anwalt eine bewusst man­gel­hafte Rechtss­chrift ein­re­icht, um sich damit eine Nach­frist für die Begrün­dung zu erwirken (Urteil 1P.254/2005 vom 30. August 2005 E. 2.5).

Das gel­tende Bun­des­gerichts­ge­setz enthält mit Art. 42 Abs. 5 BGG eine Bes­tim­mung, welche Art. 30 Abs. 2 OG im Wesentlichen entspricht. Das Bun­des­gericht sieht keine Ver­an­las­sung, von sein­er bish­eri­gen Recht­sprechung bei Anwen­dung der StPO abzuwe­ichen (vgl. Urteil 1B_194/2012 vom 3. August 2012 E. 2.1).

Im vor­liegen­den Fall ist nicht ersichtlich, dass sich der Rechtsvertreter der Beschw­erde­führerin rechtsmiss­bräuch­lich ver­hal­ten hätte. Der Form­fehler bestand bloss in der fehlen­den rechts­gülti­gen Unter­schrift. Zudem reichte er die Beru­fungserk­lärung drei Tage vor Fristablauf ein. Es liegen daher keine Hin­weise vor, dass der Rechtsvertreter bewusst von ein­er rechts­gülti­gen Unter­schrift absah, um eine Nach­frist zu erwirken. Fol­glich hätte die Vorin­stanz ihn auf den Man­gel aufmerk­sam machen müssen. Hier­für wäre auch genü­gend Zeit verblieben. Andern­falls hätte sie eine kurze über die geset­zliche Rechtsmit­tel­frist hin­aus­ge­hende Nach­frist für die gültige Unterze­ich­nung der Beru­fungserk­lärung anset­zen müssen.

Das Bun­des­gericht hebt den Nichtein­tretensentscheid auf. Weil der Rechtsvertreter bere­its eine Rechtss­chrift mit eigen­händi­ger Unter­schrift nachgere­icht hat, erübrigt sich die Anset­zung ein­er Nachfrist.