4A_691/2015: Anfechtung des Anfangsmietzinses (amtl. Publ.)

Gemäss Art. 270 Abs. 1 lit. OR kann der Mieter den Anfangsmi­et­zins ins­beson­dere anfecht­en, wenn er sich wegen ein­er per­sön­lichen oder famil­iären Not­lage oder wegen
der Ver­hält­nisse auf dem örtlichen Markt für Wohn- und Geschäftsräume
zum Ver­tragsab­schluss gezwun­gen sah.

Die Vorin­stanz erachtete diese Voraus­set­zun­gen als kumu­la­tiv. Es genüge für die Anfech­tung des Anfangsmi­et­zins­es nach dieser Bes­tim­mung nicht, wenn der Mieter eine Not­lage oder eine Woh­nungsnot nach­weise. Vielmehr müsse er beweisen, dass er sich aus diesem Grund in ein­er Zwangslage befun­den habe, und er müsse nach­weisen, dass ihm eine vernün­ftige Alter­na­tive gefehlt habe, wozu er Suchbe­mühun­gen nachzuweisen habe.

Das Bun­des­gericht fol­gte dieser Beurteilung aus mehreren Grün­den nicht:

  • E. 2.1: Es ver­wies zunächst auf die Entste­hungs­geschichte von Art. 270 Abs. 1 lit. a OR und dabei ins­beson­dere auf seinen früheren Entscheid, wonach der Mieter den Anfangsmi­et­zins nicht nur anfecht­en könne in ein­er Sit­u­a­tion der Woh­nungsnot, son­dern auch unab­hängig von ein­er der­ar­ti­gen Sit­u­a­tion, wenn er zum Abschluss der Miete aus anderen per­sön­lichen Grün­den gezwun­gen war (BGE 114 II 74, E. 3c).
  •  E. 2.2: Weit­er erin­nerte das Bun­des­gericht an seine bish­erige Recht­sprechung, in welch­er es erkan­nt hat­te, dass die Anfech­tung nach Art. 270 Abs. 1 OR in drei alter­na­tiv­en Fällen möglich sei (BGE 136 III 82, E. 2; BGE 139 III 13, E. 3.1.1). Dabei räumte es ein, dass die all­ge­meinen Erwä­gun­gen in den Entschei­den zur Ausle­gung von Art. 270 Abs. 1 lit. a OR nicht ein­heitlich seien, da zuweilen die bei­den in Art. 270 Abs. 1 lit. a OR genan­nten Alter­na­tiv­en zusam­menge­fasst wür­den (E. 2.2.3).
  • E. 3.1.3: Dass die Zwangslage des Mieters beim Abschluss des
    Mietver­trags qual­i­ta­tiv dieselbe sein müsse, unab­hängig davon, ob sie
    auf eine per­sön­liche bzw. famil­iäre Not­lage oder auf die Ver­hält­nisse auf dem
    örtlichen Markt von Woh­nun­gen oder Geschäft­sräu­men zurück­zuführen sei,
    könne wed­er aus der Entste­hungs­geschichte noch der Prax­is des
    Bun­des­gerichts zur früher gel­tenden Regelung abgeleit­et werden. 
  • E. 3.1.1: Auf­grund des Wort­lauts von Art. 270 Abs. 1 OR sei davon auszuge­hen, dass drei alter­na­tive Gründe für die Anfech­tung des Anfangsmi­et­zins­es bestehen.
  • E. 3.1.2: Auch sys­tem­a­tisch könne angesichts des klaren Wort­lauts nicht abgeleit­et wer­den, dass let­ztlich per­sön­liche bzw. famil­iäre Gründe nur in Verbindung mit den Ver­hält­nis­sen auf dem lokalen Markt für Woh­nun­gen oder Geschäft­sräume zur Anfech­tung der Anfangsmi­ete berechti­gen könnten.
  • E. 3.1.4: Auch tele­ol­o­gisch sei nicht einzuse­hen, weshalb für die Anfech­tung des Anfangsmi­et­zins­es wegen ein­er nicht funk­tion­ieren­den Mark­t­lage der Nach­weis ein­er per­sön­lichen Not- bzw. Zwangslage erforder­lich sei. Vielmehr gehe es darum, dass Kon­sumenten im All­ge­meinen und Mieter im Beson­deren keine den Anbi­etern (Ver­mi­etern) ver­gle­ich­bare Stel­lung ein­nehmen, die ihnen die Ver­hand­lung eines aus­ge­wo­ge­nen Ver­trags ermöglichen kön­nte. Die zweite Alter­na­tive von Art. 270 Abs. 1 lit. a OR diene denn auch dazu, den Miss­brauch eines Mark­tun­gle­ichgewicht zu ver­hin­dern, ähn­lich wie dies bei anderen Bes­tim­mungen der Fall sei.
  • E. 3.1.5: In der Lit­er­atur wird teil­weise die gegen­teilige Ansicht vertreten, wonach der Mieter auch bei nachgewiesen­er Knap­pheit des Mietange­bots an Woh­nun­gen oder an Geschäft­sräu­men auf dem örtlichen Markt zur Anfech­tung des Anfangsmi­et­zins­es nur zuzu­lassen sei, wenn er nach­weise, dass er auf­grund sein­er per­sön­lichen Ver­hält­nisse zum Auszug aus sein­er bish­eri­gen Woh­nung gezwun­gen war und keine zumut­bare Alter­na­tive zum Abschluss eines anderen Ver­trages hat­te. Diese Ansicht beruhe, so das Bun­des­gericht, auf der unzutr­e­f­fend­en Annahme, dass sich die geset­zliche Regelung nicht geän­dert habe.

Gestützt auf diese Erwä­gun­gen kam das Bun­des­gericht zum Schluss, die Vorin­stanz verkenne mit ihrer Ansicht (E. 3.1.6)

die Selb­ständigkeit der zweit­en Voraus­set­zung zur Anfech­tung des Anfangsmi­et­zins­es in Art. 270 Abs. 1 lit. a OR

Der Man­gel an Woh­nun­gen oder Geschäft­sräu­men im Sinne von Art. 270 Abs. 1 lit. a zweite Alter­na­tive OR könne, so das Bun­des­gericht weit­er (E. 3.2), grund­sät­zlich mit offiziellen Sta­tis­tiken belegt wer­den. Voraus­ge­set­zt sei, dass diese aktuell sind und auf ver­lässlichen und hin­re­ichend dif­feren­zierten Erhe­bun­gen beruhen (BGE 136 III 82, E. 2). Soweit ver­lässliche sta­tis­tis­che Dat­en über den Prozentsatz des im mass­geben­den Zeit­punkt ver­füg­baren Bestands von Woh­nun­gen nicht vorhan­den seien, sei es dem Mieter auch abge­se­hen davon möglich, den ihm obliegen­den Nach­weis der Woh­nungsnot auf andere Weise zu erbrin­gen, namentlich durch den Nach­weis inten­siv­er und frucht­los­er Suchbe­mühun­gen (BGE 136 III 82, E. 2; BGer 4A_169/2002 vom 16. Okto­ber 2002, E. 2.1)