4A_225/2019: Gerichtlicher Augenschein setzt grundsätzlich einen Parteiantrag voraus

A. (Beschw­erde­führerin) arbeit­ete als Pflege­fach­frau in einem öffentlich-rechtlich organ­isierten Spi­tal des Kan­tons Basel-Stadt. Am 8. März 2010 erlitt sie während der Arbeit einen Unfall. Als A. in der Küche ihrer Sta­tion einen Ein­bauschrank öffnete, wurde sie am Kopf von einem unge­fähr fünf Kilo­gramm schw­eren Regal­brett und einem Git­ter getrof­fen. Die Gegen­stände fie­len aus Überkopfhöhe auf A. herunter. Am näch­sten Tag wur­den bei A. eine Hirn­er­schüt­terung und eine Kon­tu­sion der Hal­swirbel­säule fest­gestellt. Der Heilungsver­lauf ver­lief ungünstig.

A. reichte beim Zivil­gericht Basel-Stadt Teilk­lage gegen das Spi­tal und den Kan­ton Basel-Stadt ein. Die kan­tonalen Gerichtsin­stanzen wiesen die Klage bzw. die Beru­fung ab. Das Bun­des­gericht wies die Beschw­erde von A. ab (Urteil 4A_225/2019 vom 2. Sep­tem­ber 2019).

Vor Bun­des­gericht war umstrit­ten, ob die Voraus­set­zun­gen für eine Werkeigen­tümer­haf­tung i.S.v. Art. 58 OR erfüllt waren (E. 5). Die Vorin­stanz hielt dazu ins­beson­dere fest, das Git­ter und die Regal­bret­ter, welche unmon­tiert im Schrank gelagert wor­den sein sollen, kön­nten keinen Werk­man­gel begrün­den. Nur fest mon­tierte Regal­bret­ter seien als Werkbe­standteil zu qual­i­fizieren. Die Beschw­erde­führerin habe jedoch nicht sub­stanzi­iert, dass mon­tierte Regal­bret­ter her­aus­gerutscht seien. Die blosse Möglichkeit, dass ein nicht mon­tiertes, im Ver­hält­nis zum Schrank kleineres Regal­brett oder son­stiger Schrank­in­halt her­aus­gerutscht sei, genüge für den Nach­weis eines Werk­man­gels nicht (E. 5.1). Das Bun­des­gericht schützte im Ergeb­nis diese Erwä­gun­gen und verneinte einen Werk­man­gel (E. 5.4).

Die Beschw­erde­führerin brachte vor, ein Regal­brett könne nicht her­aus­rutschen, wenn es kor­rekt mon­tiert sei. Der Schrank sei man­gel­haft, wenn ein Regal­brett her­aus­rutsche, das eigentlich mon­tiert sein müsste (E. 5.2). Das Bun­des­gericht erwog indessen, ein kleineres Tablar, welch­es nicht das zum besagten Schrank passende For­mat habe und deshalb gar nicht mon­tiert wer­den könne, sei kein Zuge­hör im Sinne von Art. 644 Abs. 3 ZGB und könne deshalb auch keine Man­gel­haftigkeit des Schranks begrün­den (E. 5.2.2).

Die Beschw­erde­führerin rügte weit­er, da der tech­nis­che Sachver­halt bestrit­ten gewe­sen sei, hätte die Vorin­stanz selb­st einen Augen­schein gemäss Art. 181 Abs. 1 ZPO durch­führen müssen. Das Augen­schein­pro­tokoll der Schlich­tungs­be­hörde könne den eige­nen Augen­schein durch das Gericht nicht erset­zen (E. 5.3.1 und 5.1). Das Bun­des­gericht wies auch diese Rüge ab.

Das Bun­des­gericht erin­nerte daran, dass der Augen­schein ein klas­sis­ches Beweis­mit­tel ist und dem Gericht zum besseren Ver­ständ­nis des Sachver­halts dient. Aus der Botschaft ergibt sich gemäss Bun­des­gericht, dass der Augen­schein im Anwen­dungs­bere­ich der Ver­hand­lungs­maxime grund­sät­zlich einen Parteiantrag voraus­set­zt. Nach pflicht­gemässem Ermessen könne das Gericht aber auch von Amtes wegen selb­st einen Augen­schein durch­führen (zum Ganzen E. 5.3.2).

Bezüglich des vor­liegen­den Fall­es verneinte das Bun­des­gericht eine Pflicht zur Durch­führung eines zweit­en Augen­scheines durch das Gericht. Die anwaltlich vertretene Partei hat­te ein­er­seits keinen Antrag auf Durch­führung eines gerichtlichen Augen­scheins gestellt. Ander­er­seits waren Fotos und Pro­tokolle der Schlich­tungs­be­hörde vorhan­den, die einen Augeschein durchge­führt hat­te (zum Ganzen E. 5.3.2 und 5.1).