Soziale Untersuchungsmaxime; Unterscheidung zwischen Schadens- und Summenversicherung; VVG Revision; Schadensversicherung vorliegend bejaht
Dem zur Publikation vorgesehenen Entscheid vom 14. Juli 2020 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die C AG stellten den A als Projektmanager per 1. Februar 2016 mit einer dreimonatigen Probezeit an. Dadurch wurde A in die kollektive Krankentaggeldversicherung der C AG aufgenommen, welche mit der B SA (Versicherer) abgeschlossen wurde.
Am 10. März 2016 wurde A auf den 20. März 2020 (und somit noch während der Probezeit) gekündigt.
Am selben Tag wurde A von seinem behandelnden Psychiater mit einer schweren Depression diagnostiziert, die gemäss Arztzeugnis zu einer 100%-Arbeitsunfähigkeit führte.
In der Folge forderte der Versicherer A auf, sich durch eine Fachperson begutachten zu lassen. Die Fachperson kam zum Schluss, dass A per 15. Juni 2016 wieder eine 50%-Arbeitsfähigkeit und per 15. Juli 2016 eine 100%-Arbeitsfähigkeit aufweisen würde.
Unter Abzug der 6‑tägigen Wartefrist bezahlte der Versicherer Krankentaggelder vom 9. Mai 2016 bis zum 14. Juni 2016 (100%) sowie vom 15. Juni 2016 bis zum 14. Juli 2016 (50%) an A.
Zudem litt A an einer polyzystischen Nierenerkrankung, die zu einer 100%-Arbeitsunfähigkeit seit dem 30. Mai 2016 führte.
Auf Gesuch des A hin verfügte der Service Médical Régional de l’Assurance-Invalidité, dass A seit dem 10. März 2016 in jedem Bereich zu 100% arbeitsunfähig war und die IV-Stelle gewährte A eine 100%-IV Rente ab 1. März 2017.
A machte gegenüber dem Versicherer einen weiteren Anspruch auf Krankentaggelder geltend, was der Versicherer jedoch ablehnte. Bestritten war u.a., was die Ursachen der Arbeitsunfähigkeiten waren und der Einfluss der polyzystischen Nierenerkrankung auf die Depression. Zudem machte der Versicherer geltend, dass A keinen Schaden erlitten habe. Selbst wenn die Kündigung Ursache der Krankheiten war, hätte A keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder, da die Rahmenfrist für die Beitragszeit abgelaufen wäre und A innert nützlicher Frist keine neue Stelle gefunden hätte. Obwohl die bisher bezahlten Krankentaggelder nach Ansicht des Versicherers zu Unrecht bezahlt worden seien, verzichtete dieser auf seinen Rückzahlungsanspruch gegenüber A.
Daraufhin reichte A eine Klage in Genf ein (Krankentaggelder in Höhe von 50% vom 15. Juni 2016 bis zum 14. Juli 2016 sowie 100% vom 15. Juli 2016 bis zum 10. März 2018), welche vom Genfer Cour de Justice vollumfänglich abgewiesen wurde, mit der Begründung, dass A nicht zum Versichertenkreis gehöre, und dass es sich so oder anders vorliegend um eine Schadensversicherung handle.
Dagegen erhob A Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht, welches die Beschwerde vollumfänglich abwies.
In einem ersten Schritt verwarf das Bundesgericht die erste Begründung der Vorinstanz, da sie sich auf eine Klausel aus der Versicherungspolice stützte, die von der Versicherung nicht behauptet wurde (E. 4.3 bis E. 4.5).
Dabei rief das Bundesgericht die soziale Untersuchungsmaxime, die gemäss Art. 247 Abs. 2 lit. a ZPO i.V.m. Art. 243 Abs. 2 lit. f ZPO zur Anwendung kommt, und deren Schranken in Erinnerung. Im Rahmen der sozialen Untersuchungsmaxime ist der Sachverhalt zwar von Amtes wegen festzustellen. Dabei geht es aber darum, die wirtschaftlich schwächere Partei zu schützen, die Gleichheit zwischen den Parteien herzustellen sowie das Verfahren zu beschleunigen. Dem Gericht obliegt einzig eine verstärkte Fragepflicht. Wie unter dem Verhandlungsgrundsatz im ordentlichen Verfahren, haben die Parteien dem Gericht den Sachverhalt zu unterbreiten. Das Gericht ist, namentlich bei anwaltlich vertretenen Parteien, nicht gehalten, die Akten von sich aus zu durchforschen, um abzuklären, was sich daraus zu Gunsten der Partei, die das Beweismittel angerufen hat, herleiten liesse. Vielmehr hat es sich bei anwaltlich vertretenen Parteien grundsätzlich Zurückhaltung aufzuerlegen wie in einem ordentlichen Verfahren. Die Tragweite der sozialen Untersuchungsmaxime ist im Licht von Art. 58 Abs. 1 ZPO zu würdigen, der besagt, dass das Gericht erst auf Antrag bzw. Behauptungen der Parteien hin einschreiten müsste, da die Parteien den Prozessrahmen festlegen und bestimmen, inwiefern sie Behauptungen und Ansprüche geltend machen wollen, die ihnen zustehen (E. 4.2, m.w.H.).
Das Bundesgericht setzte sich in einem zweiten Schritt mit der zweiten Begründung der Vorinstanz auseinander und bestätigte die Schlussfolgerung der Vorinstanz, dass die Versicherung vorliegend als Schadensversicherung zu qualifizieren ist (E. 5.1 bis E. 5.4).
Eine Summenversicherung liegt vor, wenn – unabhängig davon, ob ein Schaden vorliegt oder ob finanzielle Folgen daraus entstanden sind – die zum voraus vereinbarte Summe zur Zahlung gelangt, sobald das befürchtete Ereignis eingetreten ist. Demgegenüber liegt eine Schadensversicherung vor, wenn die Parteien die Leistung der Versicherung davon abhängig machen, ob effektiv ein finanzieller Schaden vorliegt. Die Schadensversicherung bezweckt die teilweise oder vollumfängliche Deckung des effektiven Schadens. Das Unterscheidungskriterium ist nicht der Zweck, sondern die Bedingung für die Versicherungsleistung. Mit der Summenversicherung kann der Versicherte die Krankentaggelder mit anderen Leistungen, die aus dem schädigenden Ereignis entstehen, kumulieren. Eine Überentschädigung ist erlaubt und die Ansprüche, die dem Anspruchsberechtigten infolge Eintrittes des befürchteten Ereignisses gegenüber Dritten zustehen, gehen nicht auf den Versicherer über (Art. 96 VVG). Dagegen ist eine Überentschädigung bei einer Schadensversicherung ausgeschlossen, weshalb Art. 72 VVG der Versicherung ein Regressrecht gegenüber dem haftpflichtigen Dritten einräumt (E. 5.2.3, m.w.H.).
Die Qualifizierung der Versicherungsart hängt von der Auslegung des Versicherungsvertrages und den allgemeinen Versicherungsbedingungen ab, wobei die allgemeinen Auslegungsregeln zur Anwendung kommen. Die Versicherungsverträge sind aber oft auslegungsbedürftig und die Gerichte hätten sich weniger oft mit der Frage (Schadens- oder Summenversicherung) befassen müssen, wenn die Versicherer die Versicherungsart im Vertrag ausdrücklich festlegen würden (E. 5.2.3, m.w.H.). U.a. aus diesem Grund verabschiedete der Gesetzgeber am 19. Juni 2020 eine Revision des VVG (die Referendumsfrist läuft bis zum 8. Oktober 2020), die im neuen nArt. 3 Abs. 1 lit. b VVG vorsieht, dass das Versicherungsunternehmen über den Umfang des Versicherungsschutzes und darüber, ob es sich um eine Summen- oder um eine Schadenversicherung handelt, informieren muss (E. 5.2.3, m.w.H.).
Im vorliegenden Fall sehen die AVB ausdrücklich vor, dass die aufgeführten Leistungen für die wirtschaftlichen Folgen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit geleistet werden. Dieses Merkmal ist jedoch nicht entscheidend, da es Zweck der Summen- und Schadensversicherung ist, die wirtschaftlichen Folgen eines Ereignisses abzufedern (E. 5.2.4). Die AVB sehen zwar vor, dass der Versicherer das Taggeld, welches aufgrund des letzten AHV-Lohns berechnet wird, nach Ablauf der vereinbarten Wartefrist längstens während der in der Police aufgeführten Leistungsdauer bezahlt, wenn der Versicherte nach ärztlicher Feststellung arbeitsunfähig ist. Auf den ersten Blick scheint diese Bestimmung auf eine Summenversicherung hinzudeuten, da einzig die Arbeitsunfähigkeit die Leistungspflicht auslöst und ein Schaden nicht ausdrücklich vorausgesetzt ist. Die Leistung ist auch nicht höchstens bis zum Erwerbsausfall geschuldet, wie es in AVB anderer Versicherungsgesellschaften vorgesehen ist. Die AVB schweigen auch über den Nachweis des konkreten Erwerbsausfalls (E. 5.2.4).
Das Bundesgericht erwog jedoch, dass die AVB gesamthaft auszulegen sind und dass die Bestimmung im Zusammenhang mit den anderen Klauseln zu verstehen ist. Dies ist umso mehr gerechtfertigt, als Summenversicherungen in der Regel nicht für Angestellte abgeschlossen werden und A vorliegend in der Versicherungspolice nicht namentlich erwähnt wird. Zudem ist der letzte AHV-Lohn entscheidend und die AVB sehen vor, dass die Leistung im Fall einer Überentschädigung reduziert werden kann, sofern nichts Gegenteiliges ausdrücklich vereinbart wurde (Summenversicherung). Mit anderen Worten gehen die AVB grundsätzlich von einer Schadensversicherung aus. Im Lichte der (wenigen) Elemente, die im Entscheid festgestellt wurden, und da sich A auf (ohnehin irrelevante) Bestimmungen beruft, die im Entscheid nicht aufgenommen wurden, ohne den Anforderungen für eine Ergänzung des Sachverhalts zu genügen, kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Vorinstanz das Bundesrecht nicht verletzte, als sie den Versicherungsvertrag als Schadensversicherung qualifizierte (E. 5.2.4). Dem Bundesgericht schien es allerdings nötig zu präzisieren, dass sich der vorliegende Fall vom Fall 4A_521/2015 unterscheidet, da u.a. die AVB im genannten Fall die Anrechnung der Leistungen Dritter nicht ausdrücklich vorsahen (E. 5.2.5).
Schliesslich erwog das Bundesgericht mit Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung, dass im Zusammenhang mit dem Nachweis des Erwerbsausfalls eine natürliche Vermutung zugunsten des Versicherten besteht, wenn dieser im Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit erwerbstätig war. In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass der Versicherte weiterhin erwerbstätig wäre, wenn er nicht erkrankt wäre. Ist der Versicherte im Zeitpunkt der Erkrankung arbeitslos und erhält er keine Arbeitslosenentschädigung, so muss er seinen Schaden nachweisen und darlegen, dass es überwiegend wahrscheinlich ist, dass er erwerbstätig gewesen wäre, wenn er nicht erkrankt wäre. Das Bundesgericht präzisierte diese Rechtsprechung dahingehend, dass diese natürliche Vermutung nur greift, wenn der Versicherte infolge Krankheit arbeitsunfähig wurde, bevor er seine Stelle infolge Kündigung verliert. Entscheidend ist hier der Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsvertrages. Da die Vorinstanz feststellte, dass A infolge («consécutivement à la résiliation») der Kündigung des Arbeitsverhältnisses erkrankte, kommt die Vermutung im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung (E. 5.3.2, m.w.H.).