4A_563/2019 (zur Publikation vorgesehen): konkrete Krankentaggeldversicherung als Schadens- oder Summenversicherung?

Soziale Unter­suchungs­maxime; Unter­schei­dung zwis­chen Schadens- und Sum­men­ver­sicherung; VVG Revi­sion; Schadensver­sicherung vor­liegend bejaht

Dem zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Entscheid vom 14. Juli 2020 lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Die C AG stell­ten den A als Pro­jek­t­man­ag­er per 1. Feb­ru­ar 2016 mit ein­er drei­monati­gen Probezeit an. Dadurch wurde A in die kollek­tive Kranken­taggeld­ver­sicherung der C AG aufgenom­men, welche mit der B SA (Ver­sicher­er) abgeschlossen wurde.

Am 10. März 2016 wurde A auf den 20. März 2020 (und somit noch während der Probezeit) gekündigt.

Am sel­ben Tag wurde A von seinem behan­del­nden Psy­chi­ater mit ein­er schw­eren Depres­sion diag­nos­tiziert, die gemäss Arztzeug­nis zu ein­er 100%-Arbeitsunfähigkeit führte.

In der Folge forderte der Ver­sicher­er A auf, sich durch eine Fach­per­son begutacht­en zu lassen. Die Fach­per­son kam zum Schluss, dass A per 15. Juni 2016 wieder eine 50%-Arbeitsfähigkeit und per 15. Juli 2016 eine 100%-Arbeitsfähigkeit aufweisen würde.

Unter Abzug der 6‑tägigen Warte­frist bezahlte der Ver­sicher­er Kranken­taggelder vom 9. Mai 2016 bis zum 14. Juni 2016 (100%) sowie vom 15. Juni 2016 bis zum 14. Juli 2016 (50%) an A.

Zudem litt A an ein­er polyzys­tis­chen Nieren­erkrankung, die zu ein­er 100%-Arbeitsunfähigkeit seit dem 30. Mai 2016 führte.

Auf Gesuch des A hin ver­fügte der Ser­vice Médi­cal Région­al de l’As­sur­ance-Inva­lid­ité, dass A seit dem 10. März 2016 in jedem Bere­ich zu 100% arbeit­sun­fähig war und die IV-Stelle gewährte A eine 100%-IV Rente ab 1. März 2017.

A machte gegenüber dem Ver­sicher­er einen weit­eren Anspruch auf Kranken­taggelder gel­tend, was der Ver­sicher­er jedoch ablehnte. Bestrit­ten war u.a., was die Ursachen der Arbeit­sun­fähigkeit­en waren und der Ein­fluss der polyzys­tis­chen Nieren­erkrankung auf die Depres­sion. Zudem machte der Ver­sicher­er gel­tend, dass A keinen Schaden erlit­ten habe. Selb­st wenn die Kündi­gung Ursache der Krankheit­en war, hätte A keinen Anspruch auf Arbeit­slosen­gelder, da die Rah­men­frist für die Beitragszeit abge­laufen wäre und A innert nüt­zlich­er Frist keine neue Stelle gefun­den hätte. Obwohl die bish­er bezahlten Kranken­taggelder nach Ansicht des Ver­sicher­ers zu Unrecht bezahlt wor­den seien, verzichtete dieser auf seinen Rück­zahlungsanspruch gegenüber A.

Daraufhin reichte A eine Klage in Genf ein (Kranken­taggelder in Höhe von 50% vom 15. Juni 2016 bis zum 14. Juli 2016 sowie 100% vom 15. Juli 2016 bis zum 10. März 2018), welche vom Gen­fer Cour de Jus­tice vol­lum­fänglich abgewiesen wurde, mit der Begrün­dung, dass A nicht zum Ver­sichertenkreis gehöre, und dass es sich so oder anders vor­liegend um eine Schadensver­sicherung handle.

Dage­gen erhob A Beschw­erde in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht, welch­es die Beschw­erde vol­lum­fänglich abwies.

In einem ersten Schritt ver­warf das Bun­des­gericht die erste Begrün­dung der Vorin­stanz, da sie sich auf eine Klausel aus der Ver­sicherungspo­lice stützte, die von der Ver­sicherung nicht behauptet wurde (E. 4.3 bis E. 4.5).

Dabei rief das Bun­des­gericht die soziale Unter­suchungs­maxime, die gemäss Art. 247 Abs. 2 lit. a ZPO i.V.m. Art. 243 Abs. 2 lit. f ZPO zur Anwen­dung kommt, und deren Schranken in Erin­nerung. Im Rah­men der sozialen Unter­suchungs­maxime ist der Sachver­halt zwar von Amtes wegen festzustellen. Dabei geht es aber darum, die wirtschaftlich schwächere Partei zu schützen, die Gle­ich­heit zwis­chen den Parteien herzustellen sowie das Ver­fahren zu beschle­u­ni­gen. Dem Gericht obliegt einzig eine ver­stärk­te Fragepflicht. Wie unter dem Ver­hand­lungs­grund­satz im ordentlichen Ver­fahren, haben die Parteien dem Gericht den Sachver­halt zu unter­bre­it­en. Das Gericht ist, namentlich bei anwaltlich vertrete­nen Parteien, nicht gehal­ten, die Akten von sich aus zu durch­forschen, um abzuk­lären, was sich daraus zu Gun­sten der Partei, die das Beweis­mit­tel angerufen hat, her­leit­en liesse. Vielmehr hat es sich bei anwaltlich vertrete­nen Parteien grund­sät­zlich Zurück­hal­tung aufzuer­legen wie in einem ordentlichen Ver­fahren. Die Trag­weite der sozialen Unter­suchungs­maxime ist im Licht von Art. 58 Abs. 1 ZPO zu würdi­gen, der besagt, dass das Gericht erst auf Antrag bzw. Behaup­tun­gen der Parteien hin ein­schre­it­en müsste, da die Parteien den Prozess­rah­men fes­tle­gen und bes­tim­men, inwiefern sie Behaup­tun­gen und Ansprüche gel­tend machen wollen, die ihnen zuste­hen (E. 4.2, m.w.H.).

Das Bun­des­gericht set­zte sich in einem zweit­en Schritt mit der zweit­en Begrün­dung der Vorin­stanz auseinan­der und bestätigte die Schlussfol­gerung der Vorin­stanz, dass die Ver­sicherung vor­liegend als Schadensver­sicherung zu qual­i­fizieren ist (E. 5.1 bis E. 5.4).

Eine Sum­men­ver­sicherung liegt vor, wenn – unab­hängig davon, ob ein Schaden vor­liegt oder ob finanzielle Fol­gen daraus ent­standen sind – die zum voraus vere­in­barte Summe zur Zahlung gelangt, sobald das befürchtete Ereig­nis einge­treten ist. Demge­genüber liegt eine Schadensver­sicherung vor, wenn die Parteien die Leis­tung der Ver­sicherung davon abhängig machen, ob effek­tiv ein finanzieller Schaden vor­liegt. Die Schadensver­sicherung bezweckt die teil­weise oder vol­lum­fängliche Deck­ung des effek­tiv­en Schadens. Das Unter­schei­dungskri­teri­um ist nicht der Zweck, son­dern die Bedin­gung für die Ver­sicherungsleis­tung. Mit der Sum­men­ver­sicherung kann der Ver­sicherte die Kranken­taggelder mit anderen Leis­tun­gen, die aus dem schädi­gen­den Ereig­nis entste­hen, kumulieren. Eine Über­entschädi­gung ist erlaubt und die Ansprüche, die dem Anspruchs­berechtigten infolge Ein­trittes des befürchteten Ereigniss­es gegenüber Drit­ten zuste­hen, gehen nicht auf den Ver­sicher­er über (Art. 96 VVG). Dage­gen ist eine Über­entschädi­gung bei ein­er Schadensver­sicherung aus­geschlossen, weshalb Art. 72 VVG der Ver­sicherung ein Regress­recht gegenüber dem haftpflichti­gen Drit­ten ein­räumt (E. 5.2.3, m.w.H.).

Die Qual­i­fizierung der Ver­sicherungsart hängt von der Ausle­gung des Ver­sicherungsver­trages und den all­ge­meinen Ver­sicherungs­be­din­gun­gen ab, wobei die all­ge­meinen Ausle­gungsregeln zur Anwen­dung kom­men. Die Ver­sicherungsverträge sind aber oft ausle­gungs­bedürftig und die Gerichte hät­ten sich weniger oft mit der Frage (Schadens- oder Sum­men­ver­sicherung) befassen müssen, wenn die Ver­sicher­er die Ver­sicherungsart im Ver­trag aus­drück­lich fes­tle­gen wür­den (E. 5.2.3, m.w.H.). U.a. aus diesem Grund ver­ab­schiedete der Geset­zge­ber am 19. Juni 2020 eine Revi­sion des VVG (die Ref­er­en­dums­frist läuft bis zum 8. Okto­ber 2020), die im neuen nArt. 3 Abs. 1 lit. b VVG vor­sieht, dass das Ver­sicherung­sun­ternehmen über den Umfang des Ver­sicherungss­chutzes und darüber, ob es sich um eine Sum­men- oder um eine Schaden­ver­sicherung han­delt, informieren muss (E. 5.2.3, m.w.H.).

Im vor­liegen­den Fall sehen die AVB aus­drück­lich vor, dass die aufge­führten Leis­tun­gen für die wirtschaftlichen Fol­gen der krankheits­be­d­ingten Arbeit­sun­fähigkeit geleis­tet wer­den. Dieses Merk­mal ist jedoch nicht entschei­dend, da es Zweck der Sum­men- und Schadensver­sicherung ist, die wirtschaftlichen Fol­gen eines Ereigniss­es abzufed­ern (E. 5.2.4). Die AVB sehen zwar vor, dass der Ver­sicher­er das Taggeld, welch­es auf­grund des let­zten AHV-Lohns berech­net wird, nach Ablauf der vere­in­barten Warte­frist läng­stens während der in der Police aufge­führten Leis­tungs­dauer bezahlt, wenn der Ver­sicherte nach ärztlich­er Fest­stel­lung arbeit­sun­fähig ist. Auf den ersten Blick scheint diese Bes­tim­mung auf eine Sum­men­ver­sicherung hinzudeuten, da einzig die Arbeit­sun­fähigkeit die Leis­tungspflicht aus­löst und ein Schaden nicht aus­drück­lich voraus­ge­set­zt ist. Die Leis­tung ist auch nicht höch­stens bis zum Erwerb­saus­fall geschuldet, wie es in AVB ander­er Ver­sicherungs­ge­sellschaften vorge­se­hen ist. Die AVB schweigen auch über den Nach­weis des konkreten Erwerb­saus­falls (E. 5.2.4).

Das Bun­des­gericht erwog jedoch, dass die AVB gesamthaft auszule­gen sind und dass die Bes­tim­mung im Zusam­men­hang mit den anderen Klauseln zu ver­ste­hen ist. Dies ist umso mehr gerecht­fer­tigt, als Sum­men­ver­sicherun­gen in der Regel nicht für Angestellte abgeschlossen wer­den und A vor­liegend in der Ver­sicherungspo­lice nicht namentlich erwäh­nt wird. Zudem ist der let­zte AHV-Lohn entschei­dend und die AVB sehen vor, dass die Leis­tung im Fall ein­er Über­entschädi­gung reduziert wer­den kann, sofern nichts Gegen­teiliges aus­drück­lich vere­in­bart wurde (Sum­men­ver­sicherung). Mit anderen Worten gehen die AVB grund­sät­zlich von ein­er Schadensver­sicherung aus. Im Lichte der (weni­gen) Ele­mente, die im Entscheid fest­gestellt wur­den, und da sich A auf (ohne­hin irrel­e­vante) Bes­tim­mungen beruft, die im Entscheid nicht aufgenom­men wur­den, ohne den Anforderun­gen für eine Ergänzung des Sachver­halts zu genü­gen, kam das Bun­des­gericht zum Schluss, dass die Vorin­stanz das Bun­desrecht nicht ver­let­zte, als sie den Ver­sicherungsver­trag als Schadensver­sicherung qual­i­fizierte (E. 5.2.4). Dem Bun­des­gericht schien es allerd­ings nötig zu präzisieren, dass sich der vor­liegende Fall vom Fall 4A_521/2015 unter­schei­det, da u.a. die AVB im genan­nten Fall die Anrech­nung der Leis­tun­gen Drit­ter nicht aus­drück­lich vor­sa­hen (E. 5.2.5).

Schliesslich erwog das Bun­des­gericht mit Hin­weis auf die bish­erige Recht­sprechung, dass im Zusam­men­hang mit dem Nach­weis des Erwerb­saus­falls eine natür­liche Ver­mu­tung zugun­sten des Ver­sicherten beste­ht, wenn dieser im Zeit­punkt der Arbeit­sun­fähigkeit erwerb­stätig war. In diesem Fall wird davon aus­ge­gan­gen, dass der Ver­sicherte weit­er­hin erwerb­stätig wäre, wenn er nicht erkrankt wäre. Ist der Ver­sicherte im Zeit­punkt der Erkrankung arbeit­s­los und erhält er keine Arbeit­slose­nentschädi­gung, so muss er seinen Schaden nach­weisen und dar­legen, dass es über­wiegend wahrschein­lich ist, dass er erwerb­stätig gewe­sen wäre, wenn er nicht erkrankt wäre. Das Bun­des­gericht präzisierte diese Recht­sprechung dahinge­hend, dass diese natür­liche Ver­mu­tung nur greift, wenn der Ver­sicherte infolge Krankheit arbeit­sun­fähig wurde, bevor er seine Stelle infolge Kündi­gung ver­liert. Entschei­dend ist hier der Zeit­punkt der Kündi­gung des Arbeitsver­trages. Da die Vorin­stanz fest­stellte, dass A infolge («con­séc­u­tive­ment à la résil­i­a­tion») der Kündi­gung des Arbeitsver­hält­niss­es erkrank­te, kommt die Ver­mu­tung im vor­liegen­den Fall nicht zur Anwen­dung (E. 5.3.2, m.w.H.).