1B_612/2021: Voraussetzungen für Untersuchungs- und Sicherheitshaft

Im Urteil 1B_612/2021 vom 24. Novem­ber 2021 hat sich das Bun­des­gericht mit den Voraus­set­zun­gen der Anord­nung von Sicher­heit­shaft befasst. Das Region­al­gericht Ober­land verurteilte einen Beschuldigten u.a. wegen ver­sucht­en Mordes zu ein­er Frei­heitsstrafe von 14 Jahren, nach­dem dieser mehrere Schüsse auf seine Ex-Part­ner­in abge­feuert hat­te. Gle­ichzeit­ig ver­fügte das Gericht die Ver­längerung der Sicher­heit­shaft. Nach­dem zuvor die Beschw­erde des Beschuldigten gegen die Ver­längerung der Sicher­heit­shaft man­gels Flucht­ge­fahr vom Bun­des­gericht teil­weise gut­ge­heis­sen und die Haft­sache zur Prü­fung weit­er­er Haft­gründe an die Vorin­stanz zurück­gewiesen wor­den war (1B_476/2021), erhob der Beschuldigte in Erwartung eines Schuld­spruchs wegen schw­er­er Kör­per­ver­let­zung erneut Beschw­erde gegen die Sicherheitshaft.

Nach Art. 221 Abs. 1 StPO sind Unter­suchungs- und Sicher­heit­shaft unter anderem zuläs­sig, wenn die beschuldigte Per­son eines Ver­brechens oder Verge­hens drin­gend verdächtig ist und ern­sthaft zu befürcht­en ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafver­fahren oder der zu erwartenden Sank­tion entzieht (sog. Flucht­ge­fahr), sie Per­so­n­en bee­in­flusst oder auf Beweis­mit­tel ein­wirkt, um so die Wahrheits­find­ung zu beein­trächti­gen (sog. Kol­lu­sion­s­ge­fahr) oder sie durch schwere Ver­brechen oder Verge­hen die Sicher­heit ander­er erhe­blich gefährdet, nach­dem sie bere­its früher gle­ichar­tige Straftat­en verübt hat (sog. Wieder­hol­ungs­ge­fahr). An deren Stelle sind gemäss Art. 212 Abs. 2 lit. c Ersatz­mass­nah­men (Art. 237 ff. StPO) anzuord­nen, wenn sie zum gle­ichen Ziel wie Haft führen (E. 2).

Die Annahme von Flucht­ge­fahr (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO) set­zt ern­sthafte Anhalt­spunk­te dafür voraus, dass die beschuldigte Per­son sich durch Flucht dem Strafver­fahren oder der zu erwartenden Sank­tion entziehen kön­nte. Im Vorder­grund ste­ht dabei eine mögliche Flucht ins Aus­land, denkbar ist jedoch auch ein Unter­tauchen im Inland. Bei der Bew­er­tung, ob Flucht­ge­fahr beste­ht, müssen Gründe beste­hen, die eine Flucht nicht nur als möglich, son­dern als wahrschein­lich erscheinen lassen. Miteinzubeziehen sind die famil­iären und sozialen Bindun­gen, die beru­fliche und finanzielle Sit­u­a­tion und die Kon­tak­te zum Aus­land. Selb­st bei ein­er befürchteten Reise in ein Land, welch­es die beschuldigte Per­son grund­sät­zlich an die Schweiz aus­liefern bzw. stel­lvertre­tend ver­fol­gen kön­nte, ist die Annahme von Flucht­ge­fahr nicht aus­geschlossen. Die Wahrschein­lichkeit ein­er Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Ver­fahrens- bzw. Haft­dauer ab, da sich auch die Dauer des allen­falls noch zu ver­büssenden strafrechtlichen Frei­heit­sentzugs mit der bere­its geleis­teten prozes­sualen Haft, die auf die mut­massliche Frei­heitsstrafe anzurech­nen wäre, kon­tinuier­lich ver­ringert (BGE 145 IV 503 E. 2.2).

Kol­lu­sion (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) kann nach der bun­des­gerichtlichen Prax­is ins­beson­dere in der Weise erfol­gen, dass sich die beschuldigte Per­son mit Zeu­gen, Auskun­ftsper­so­n­en, Sachver­ständi­gen oder Mitbeschuldigten ins Ein­vernehmen set­zt oder sie zu wahrheitswidri­gen Aus­sagen ver­an­lasst oder dass sie Spuren und Beweis­mit­tel beseit­igt. Die the­o­retis­che Möglichkeit, dass die beschuldigte Per­son kol­ludieren kön­nte, genügt indessen nicht, um Haft unter diesem Titel zu recht­fer­ti­gen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Ver­dunkelungs­ge­fahr sprechen (BGE 137 IV 122 E. 4.2). Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine mass­ge­bliche Beein­träch­ti­gung des Strafver­fahrens wegen Ver­dunkelung dro­ht, ist auch der Art und Bedeu­tung der von Bee­in­flus­sung bedro­ht­en Aus­sagen bzw. Beweis­mit­teln, der Schwere der unter­sucht­en Straftat­en sowie dem Stand des Ver­fahrens Rech­nung zu tra­gen. Je weit­er das Strafver­fahren vor­angeschrit­ten ist und je präzis­er der Sachver­halt bere­its abgek­lärt wer­den kon­nte, desto höhere Anforderun­gen sind an den Nach­weis von Ver­dunkelungs­ge­fahr zu stellen (E. 2.2).

Für das Vor­liegen von Wieder­hol­ungs­ge­fahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) sind drei Ele­mente kon­sti­tu­tiv. Erstens muss grund­sät­zlich das Vor­taten­er­forder­nis erfüllt sein und es müssen schwere Verge­hen oder Ver­brechen dro­hen. Zweit­ens muss hier­durch die Sicher­heit ander­er erhe­blich gefährdet sein. Und drit­tens muss die Tatwieder­hol­ung ern­sthaft zu befürcht­en sein, was anhand ein­er Rück­fall­prog­nose zu beurteilen ist (BGE 143 IV 9 E. 2.5).

Was das Vor­taten­er­forder­nis bet­rifft, so lässt sich die Gefährlichkeit der beschuldigten Per­son sowohl auf­grund von bere­its abgeurteil­ten Vor­tat­en evaluieren, als auch im Gesamtkon­text der ihr neu vorge­wor­fe­nen Delik­te, sofern die Tat­bege­hung mit aus­re­ichen­der Wahrschein­lichkeit erstellt ist. Erweisen sich die Risiken als untrag­bar hoch (sog. “qual­i­fizierte Wieder­hol­ungs­ge­fahr”), kann vom Vor­taten­er­forder­nis sog­ar voll­ständig abge­se­hen wer­den (E. 3.2).

Bei der Beurteilung der Schwere der dro­hen­den Delik­te sind neben der abstrak­ten Straf­dro­hung gemäss Gesetz ins­beson­dere auch das betrof­fene Rechtsgut und der Kon­text, namentlich das konkret von der beschuldigten Per­son vorhan­dene Gewalt­poten­zial, einzubeziehen. Die erhe­bliche Gefährdung der Sicher­heit ander­er durch dro­hende Ver­brechen oder schwere Verge­hen kann sich grund­sät­zlich auf Rechts­güter jed­er Art beziehen. Im Vorder­grund ste­hen Delik­te gegen die kör­per­liche und sex­uelle Integrität (E. 3.2).

Mass­ge­bliche Kri­te­rien bei der Beurteilung der Rück­fall­prog­nose sind ins­beson­dere die Häu­figkeit und Inten­sität der fraglichen Delik­te. Zu würdi­gen sind auch die per­sön­lichen Ver­hält­nisse des Beschuldigten. Je schw­er­er die dro­hen­den Tat­en sind und je höher die Gefährdung der Sicher­heit ander­er ist, desto gerin­gere Anforderun­gen sind an die Rück­fall­ge­fahr zu stellen. Zugle­ich ist der Haft­grund der Wieder­hol­ungs­ge­fahr restrik­tiv zu hand­haben. Hier­aus fol­gt, dass eine ungün­stige Rück­fall­prog­nose zur Annahme von Wieder­hol­ungs­ge­fahr notwendig, grund­sät­zlich aber auch aus­re­ichend ist. Beson­ders bei dro­hen­den schw­eren Gewaltver­brechen ist dabei auch dem psy­chis­chen Zus­tand der beschuldigten Per­son bzw. ihrer Unberechen­barkeit oder Aggres­siv­ität Rech­nung zu tra­gen (E. 3.2).

Vor­liegend war nach Auf­fas­sung des Bun­des­gerichts nicht ersichtlich, welche konkreten Ver­dunkelung­shand­lun­gen vom Beschw­erde­führer nach der erstin­stan­zlichen Hauptver­hand­lung noch zu befürcht­en waren, da die Aus­sagen von Opfer und Zeu­gen bere­its mehrfach und präzise fest­standen (E. 2.3). Jedoch sah es eine qual­i­fizierte Wieder­hol­ungs­ge­fahr auf­grund der dro­hen­den Tatvol­len­dung durch den Beschuldigten erfüllt (E. 3.3.1). Ins­beson­dere stellte es dem Beschuldigten auf­grund der objek­tiv­en Tatum­stände, der dro­hen­den mehrjähri­gen Frei­heitsstrafe sowie der nach wie vor beste­hen­den Beziehung­sprob­lematik eine ungün­stige Rück­fall­prog­nose (E. 3.3.3). Ersatz­mass­nah­men, welche die Wieder­hol­ungs­ge­fahr hin­re­ichend hät­ten min­dern kön­nen, waren schliesslich keine ersichtlich (E. 4.2).