4A_330/2021: Versicherungsvertrag, gültiger Deckungsausschluss bei Pandemien (amtl. Publ.)

Im zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_330/2021 vom 5. Januar 2022 befasste sich das Bundesgericht mit einem Deckungsausschluss für Schäden als Folge einer Pandemie in einem Versicherungsvertrag.

Im konkreten Fall kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass keine objektive Ungewöhnlichkeit vorliegt und dass der Deckungsausschluss damit vom Konsens erfasst ist. Das Bundesgericht legt den konkreten Text der Versicherungsklausel — im Gegensatz zur Vorinstanz — so aus, dass die COVID-19 Pandemie aus der Versicherungsdeckung ausgeschlossen ist.


Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Die B AG (Klägerin, Beschw­erdegeg­ner­in, Ver­sicherte) betreibt ein Lokal mit Restau­rant und Bar in U. Sie hat bei der A AG (Beklagte, Beschw­erde­führerin, Ver­sicher­er) die “X Geschäftsver­sicherung KMU” abgeschlossen, enthal­tend eine Fahrhabev­er­sicherung sowie eine Betriebs- und Unfal­lver­sicherung. Die Fahrhabev­er­sicherung umfasst laut Ver­sicherungspo­lice unter der Rubrik “Weit­ere Gefahren” auch die Ver­sicherung für Ertragsaus­fall und Mehrkosten infolge Epi­demie bis zu einem Höch­st­be­trag von CHF 2 Mio. bei einem Selb­st­be­halt von CHF 200.

Die Parteien stim­men übere­in, dass zwis­chen ihnen die Zusatzbe­din­gun­gen der X Geschäftsver­sicherung KMU gel­ten (nach­fol­gend Zusatzbe­din­gun­gen). Die Zusatzbe­din­gun­gen sehen fol­gende Deck­ung aus:

In der Rubrik “Ver­sichert sind” hält die Klausel B1 der Zusatzbe­din­gun­gen unter dem her­vorge­hobe­nen Titel “Epi­demie” fest, dass Schä­den ver­sichert sind “infolge von Mass­nah­men, die eine zuständi­ge schweiz­erische oder liecht­en­steinis­che Behörde auf­grund geset­zlich­er Bes­tim­mungen ver­fügt, um durch: a) Schlies­sung oder Quar­an­täne von Betrieben oder Betrieb­steilen sowie Ein­schränkun­gen der betrieblichen Tätigkeit […] die Ver­bre­itung über­trag­bar­er Krankheit­en zu verhindern”.

In der Rubrik “Nicht ver­sichert sind” umschreibt die Klausel B2 der Zusatzbe­din­gunge eben­falls unter dem her­vorge­hobe­nen Titel “Epi­demie”, welche Risiken in diesem Bere­ich vom Ver­sicherungss­chutz ausgenom­men sind. Nicht ver­sichert sind laut Klausel B2 “Schä­den infolge von Influen­za-Viren und Pri­onkrankheit­en (Scrapie, Rinder­wahnsinn, Creutzfeldt-Jakob usw.) sowie infolge Krankheit­ser­regern für welche nation­al oder inter­na­tion­al die WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 gelten”.

Diese Pan­demiestufen find­en sich  in dem “WHO glob­al influen­za pre­pared­ness plan” aus dem Jahre 2005.

Die vom Bun­desrat ange­ord­nete Betrieb­ss­chlies­sung ab 17. März 2020 führte bei der Ver­sicherten zu einem Ertragsaus­fall. Am 18. März 2020 errech­nete sie einen zu erwartenden Betrieb­sun­ter­brechungss­chaden bis 30. April 2020 von CHF 75’397. Der Ver­sicher­er lehnte Entschädi­gun­gen im Zusam­men­hang mit dem Coro­n­avirus (COVID-19) ab.

Daraufhin erhob die Ver­sicherte Teilk­lage beim Han­dels­gericht des Kan­tons Aar­gau. Mit Urteil vom 17. Mai 2021 hiess das Han­dels­gericht die Klage gut. Gegen den Entscheid erhob der Ver­sicher­er Beschw­erde beim Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde des Verischer­ers gut, hob das Urteil der Vorin­stanz auf und wies die Klage der Ver­sicherten ab.

Zwis­chen den Parteien war unbe­strit­ten, dass die Ein­teilung von Pan­demien in sechs Phasen gemäss dem genan­nten Plan der WHO seit 2013, d.h. bere­its vor Abschluss des Ver­sicherungsver­trages, über­holt war, und dass diese nicht mehr in Gebrauch war (die WHO fol­gt seit 2013 einem Sys­tem von vier Pandemiephasen).

Vor der Vorin­stanz hat­te die Ver­sicherte sodann aus­drück­lich zuge­s­tanden, dass “nicht zu bestre­it­en ist”, dass die WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 beim COVID-19 inhaltlich erre­icht wären, d.h., dass die COVID-19-Pan­demie als eine Pan­demie der WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 beurteilt wird.

Bis vor Bun­des­gericht strit­tig war demge­genüber, ob der Pas­sus der Klausel B2 der Zusatzbe­din­gun­gen, wonach Schä­den nicht gedeckt sind, unter anderem “infolge Krankheit­ser­regern für welche nation­al oder inter­na­tion­al die WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 gel­ten”, die Deck­ung für den Schaden der Ver­sicherten im Zusam­men­hang mit dem COVID-19 ausschliesst.


Ist die Klausel B2 der Zusatzbe­din­gun­gen vom Kon­sens gedeckt?

Zunächst rief das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zur Über­nahme von All­ge­meinen Verischerungs­be­din­gun­gen (E. 2) und ins­beson­dere zur Globaüber­nahme (E. 2.1.3) in Erin­nerung; dabei han­delt es sich um eine Frage des Kon­sens.

Das Bun­des­gericht bestätigte die Schlussfol­gerung der Vorin­stanz, wonach die Klausel B2 nicht (objek­tiv) ungewöhn­lich ist, weshalb sie vom Kon­sens erfasst ist:

Gemäss Bun­des­gericht schadet es für die Über­nahme der Klausel B2 der Zusatzbe­din­gun­gen nicht, dass der Wort­laut der WHO-Pan­demiestufen nicht im Voll­text in die Zusatzbe­din­gun­gen über­nom­men wurde. Wie diese Begrif­flichkeit­en in den Zusatzbe­din­gun­gen zu ver­ste­hen sind, ist im Rah­men der Ausle­gung zu beurteilen (E. 4.1.2).

Die Klausel B2 der Zusatzbe­din­gun­gen ist nicht objek­tiv ungewöhn­lich: Die Epi­demie ist bloss eine unter mehreren Gefahren, welche die von der Beschw­erdegeg­ner­in abgeschlossene Ver­sicherung deckt. Aus­geschlossen ist demge­genüber die Deck­ung in diesem Bere­ich für Schä­den infolge von “Krankheit­ser­regern für welche nation­al oder inter­na­tion­al die WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 gel­ten”. Durch diesen Auss­chluss wird der durch die “X. Geschäftsver­sicherung KMU” beschriebene Deck­ungs­fall nicht insofern reduziert, als ger­ade die häu­fig­sten Risiken nicht mehr gedeckt wäre, da mit dem Pan­demieauss­chluss ein seltenes Risiko aus der Ver­sicherungs­deck­ung ausgenom­men wird (näm­lich das spezielle Risiko für Schä­den infolge von “Krankheit­ser­regern für welche nation­al oder inter­na­tion­al die WHO-Pan­demiestufen 5 oder 6 gelten”).Bei dieser Auss­chlussklausel um eine von vie­len Bes­tim­mungen in den Zusatzbe­din­gun­gen, in welchen der Ver­sicher­er ihre Ver­sicherungsleis­tung ein­schränk­te, wom­it wed­er der Charak­ter der “X. Geschäftsver­sicherung KMU” wesentlich geän­dert wird, noch diese im erhe­blichen Masse aus dem geset­zlichen Rah­men des Ver­tragsty­pus fall­en würde. Es genügt für die Ungewöhn­lichkeit noch nicht, dass eine Klausel das ver­sicherte Risiko ein­schränkt, denn auch der durch­schnit­tliche Ver­sicherungsnehmer weiss, dass eine Ver­sicherung nicht alle Risiken deckt. Entsprechend musste auch die Ver­sicherte damit rech­nen, dass bei ihrer “Geschäftsver­sicherung KMU” der Ver­sicher­er die Deck­ung für spez­i­fis­che Risiken — namentlich auch im Zusam­men­hang mit Epi­demien — auss­chliesst (E. 4.2.5).


Ausle­gung der Klausel B2 der Zusatzbedingungen

Haben die Parteien die All­ge­meinen Geschäfts­be­din­gun­gen in den Ver­trag über­nom­men, ist in einem zweit­en Schritt der Inhalt durch Ausle­gung zu ermit­teln (E.2.2), wobei All­ge­meine Geschäfts­be­din­gun­gen grund­sät­zlich nach densel­ben Prinzip­i­en auszule­gen wie andere ver­tragliche Bes­tim­mungen sind: Entschei­dend ist dem­nach in erster Lin­ie der übere­in­stim­mende wirk­liche Wille der Ver­tragsparteien und in zweit­er Lin­ie, falls ein solch­er nicht fest­gestellt wer­den kann, die Ausle­gung der Erk­lärun­gen der Parteien auf­grund des Ver­trauen­sprinzips (E. 2.2.1).

2.2.2. Mehrdeutige Wen­dun­gen in all­ge­meinen Geschäfts­be­din­gun­gen sind im Zweifel zu Las­ten jen­er Partei auszule­gen, die sie ver­fasst hat (sog. Unklarheit­sregel). In all­ge­meinen Ver­sicherungs­be­din­gun­gen sind mehrdeutige Klauseln somit gegen den Ver­sicher­er als deren Ver­fass­er zu inter­pretieren (…). Für den Ver­sicherungsver­trag konkretisiert Art. 33 VVG die Unklarheit­sregel insofern, als der Ver­sicher­er für alle Ereignisse haftet, welche die Merk­male der ver­sicherten Gefahr an sich tra­gen, es sei denn, dass der Ver­trag einzelne Ereignisse in “bes­timmter, unzwei­deutiger Fas­sung” von der Ver­sicherung auss­chliesst (…). Es ist somit am Ver­sicher­er, die Trag­weite der Verpflich­tung, die er einge­hen will, genau zu begrenzen (…).

Die Unklarheit­sregel kommt jedoch nur sub­sidiär zur Anwen­dung, wenn sämtliche übri­gen Ausle­gungsmit­tel ver­sagen (…). Es genügt mithin nicht, dass die Parteien über die Bedeu­tung ein­er Erk­lärung stre­it­en, son­dern es ist voraus­ge­set­zt, dass die Erk­lärung nach Treu und Glauben auf ver­schiedene Weise ver­standen wer­den kann (…) und es nicht möglich ist, den Zweifel mit den übri­gen Ausle­gungsmit­teln zu beseitigen (…).…”

In der Folge legte das Bun­des­gericht die Klausel B2 aus und kam zum Schluss, dass die Vorin­stanz bei ihrer Ausle­gung nicht alle Ausle­gungsmit­tel beachtete und sich haupt­säch­lich auf den Wort­laut der Klausel B2 stützte. Wer­den alle im vorin­stan­zlichen Entscheid fest­gestell­ten Umstände in die Inter­pre­ta­tion der Klausel B2 ein­be­zo­gen, resul­tiert gemäss Bun­des­gericht eine gegen­teilige Ausle­gung (E. 5.2.2):

In sys­tem­a­tis­ch­er Hin­sicht hängt die Klausel B2 mit der Klausel B1 zusam­men: Die Klausel B1 legt fest, welche Risiken bei ein­er “Epi­demie” von der Ver­sicherung gedeckt sind, und die Klausel B2 nimmt bes­timmte Risiken wieder aus der Deck­ung aus. In der Klausel B2 wer­den beim Risiko “Epi­demie” drei Grup­pen von Ereignis­sen aus der Ver­sicherungs­deck­ung aus­geschlossen, näm­lich Schä­den infolge von “Influen­za-Viren”, “Pri­onkrankheit­en (Scrapie, Rinder­wahnsinn, Creutzfeldt-Jakob usw.) ” sowie den hier strit­ti­gen “Krankheit­ser­regern für welche nation­al oder inter­na­tion­al die WHO Pan­demiestufen 5 oder 6 gel­ten”. Abgestellt wird mit Let­zterem auf ein Stufen­sys­tem der WHO, ohne dass dieses Sys­tem in den Zusatzbe­din­gun­gen oder anderen Ver­trags­be­standteilen weit­er definiert oder konkretisiert würde. (E. 5.2.2.1).

Nach den unbe­strit­te­nen verbindlichen Fest­stel­lun­gen der Vorin­stanz kann von einem branchen­frem­den Ver­sicherungsnehmer erwartet wer­den, dass er weiss, was eine Pan­demie ist, näm­lich eine weit ver­bre­it­ete, ganze Län­der oder Land­striche erfassende Seuche bzw. eine auf grosse Teile eines Lan­des oder Erdteils über­greifende Epi­demie, eine Epi­demie grossen Aus­mass­es. Wer dies weiss, kann aus dem Text der Klausel B2 der Zusatzbe­din­gun­gen erken­nen, dass solche Pan­demien nach dem in der Klausel B2 ref­eren­zierten Sys­tem der WHO in ver­schiedene Stufen eingeteilt, und davon die Stufen 5 und 6 aus der Ver­sicherungs­deck­ung ausgenom­men wer­den. Sind einzelne Pan­demiestufen ausgenom­men, kon­nte die Ver­sicherte nach Treu und Glauben ver­ste­hen, dass mit den Pan­demiestufen 5 und 6 die bei­den höch­sten Pan­demiestufen gemeint sind, auch wenn sie das WHO-Pan­demiestufen­sys­tem nicht (im Detail) ken­nt. Dem­nach musste die Ver­sicherte die Klausel B2 so ver­ste­hen, dass die höch­sten bei­den Stufen des Pan­demiestufen­sys­tems der WHO von der Ver­sicherungs­deck­ung ausgenom­men sind. Ein solch­es Ausle­gungsergeb­nis stimmt auch mit dem Regelungsziel des Ver­sicher­ers übere­in, welch­es die Ver­sicherungsnehmerin als redliche Geschäftspart­ner­in erken­nen musste, näm­lich mit dieser Klausel aus dem grund­sät­zlich ver­sicherten Risiko der Epi­demie weitre­ichend­ste Aus­prä­gun­gen ein­er Pan­demie, die ober­sten bei­den Stufen des Pan­demiestufen­sys­tems der WHO, auszunehmen (E. 5.2.2.2).

Dass dieses Stufen­sys­tem von der WHO bere­its bei Ver­tragss­chluss nicht mehr im Gebrauch war, ändert an diesem Ausle­gungsergeb­nis nichts. Gemäss Bun­des­gericht ist es näm­lich nicht ersichtlich, warum der Ver­sicher­er für die Umschrei­bung des Auss­chlusses der Ver­sicherungs­deck­ung bei Epi­demie nicht an den früheren Pan­demiestufen der WHO hätte anknüpfen dür­fen, dies selb­st wenn der Wort­laut der Klausel so lautet, dass die Stufen nation­al oder inter­na­tion­al zu “gel­ten” haben (E. 5.2.2.3). Das Bun­des­gericht kam zum Schluss, dass die Ausle­gung der Vorin­stanz, wonach diese Pan­demiestufen “in Kraft” oder “mass­ge­blich” sein müssten bzw. eine Behörde sich auf die WHO-Pan­demiestufen habe berufen müssen, damit der Deck­ungsauss­chluss greife, dem Regelungsziel der Klausel nicht Rech­nung trug. Gemäss Bun­des­gericht hätte die Ausle­gung der Vorin­stanz zur Kon­se­quenz, dass der in der Klausel B2 beschriebene Deck­ungsauss­chluss nie greifen kön­nte und somit tot­er Buch­stabe bliebe, was jedoch keine sachgerechte Ausle­gung darstellt. Es musste auch der Ver­sicherten als redlich­er Geschäftspart­ner­in klar sein, dass der Ver­sicher­er keine solche leer gehende Regelung bezweck­en wollte. Das Bun­des­gericht erwog, dass der Klausel B2 die erkennbare Absicht des Ver­sicher­ers zu Grunde lag, die gravierend­sten Pan­demieereignisse von der Ver­sicherungs­deck­ung auszunehmen, mithin solche, welche die Voraus­set­zun­gen der WHO-Pan­demiestufe 5 oder 6 aufweisen (E. 5.2.2.3).

“5.2.3. Aus dem Gesagten fol­gt auch, dass der Klausel nach Treu und Glauben nicht die Bedeu­tung zugemessen wer­den kann, dass die WHO-Pan­demiestufen 5 und 6 “in Kraft” oder “mass­ge­blich” sein müssten bzw. eine Behörde sich auf eine WHO-Pan­demiestufe habe berufen müssen, damit der Deck­ungsauss­chluss greift. Entsprechend kann auch nicht gesagt wer­den, dass die Klausel B2 nach Treu und Glauben auf ver­schiedene Weise ver­standen wer­den kann (…). Vielmehr erschliesst sich die Bedeu­tung der Klausel B2 im Gesamtzusam­men­hang, wom­it für die Anwen­dung der Unklarheit­sregel kein Raum bleibt. Diese kommt erst sub­sidiär zur Anwen­dung, wenn sämtliche übri­gen Ausle­gungsmit­tel versagen (…).”