Gemäss Bundesgerichtsurteil 5A_112/2020 vom 28.3.2022 liegt keine Verletzung der Dispositionsmaxime vor, wenn ein Gericht einen tieferen Ehegattenunterhaltsbeitrag zuspricht als vom unterhaltspflichtigen Ehegatten anerkannt, solange der insgesamt anerkannte Gesamtbetrag aus Ehegatten- und Kinderunterhalt nicht unterschritten wird. Das Urteil steht im Widerspruch zur bisherigen Praxis des Bundesgerichts und bedarf daher sorgfältiger Einordnung.
Urteilszusammenfassung
Im zu beurteilenden Fall rügte die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe die Dispositionsmaxime verletzt, da sie ihr einen tieferen Ehegattenunterhaltsbeitrag zugesprochen habe als von ihrem Ehemann anerkannt. Das Kantonsgericht habe fälschlicherweise festgehalten, dass die Gesamtgrösse aus Ehegatten- und Kinderunterhalt massgebend sein. Indes würden der Ehegatte und die Kinder je über selbständige Unterhaltsansprüche mit eigener Rechtsgrundlage verfügen. Die Offizialmaxime gelte nur für den Kindesunterhalt, beim Ehegattenunterhalt komme dagegen die Dispositionsmaxime zum Tragen.
Das Bundesgericht erwog, bei der zweistufigen Methode mit Überschussverteilung bestehe eine grosse Interdependenz zwischen dem Ehegatten- und dem Kinderunterhalt. Zwar treffe zu, dass die beiden Unterhaltskategorien auf unterschiedlichen materiellen Normen beruhen und für sie auch unterschiedliche Verfahrensmaximen gelten. Indes sei es aufgrund der angesprochenen Interdependenz nicht möglich, die für den Kindesunterhalt gewonnen Erkenntnisse für den im gleichen Entscheid beurteilten ehelichen Unterhalt auszublenden. Dies Erwägungen beträfen zwar die Sachverhaltsermittlung; sinngemäss müssten sie aber auch für die unmittelbar damit verknüpfte rechtliche Operation der Bestimmung der Unterhaltshöhe gelten. Es sei dem unterhaltspflichtigen Elternteil objektiv nicht möglich, für den Fall, dass das Gericht in Anwendung der Offizialmaxime einen höheren Kindesunterhalt zuspreche, ein entsprechend tiefer beziffertes Eventualbegehren für den Ehegattenunterhalt zu stellen. Er könne nicht wissen, auf welchen höheren Betrag das Gericht den Kindesunterhalt festsetzen werde.
Vorliegend sei die Dispositionsmaxime nicht verletzt, da die Vorinstanz den vom Ehemann konzedierten Gesamtbetrag aus Ehegatten- und Kinderunterhalt nicht unterschritten habe.
Kommentar
Das Urteil steht im diametralen Widerspruch zur bisherigen Praxis des Bundesgerichts. Im Leiturteil BGE 140 III 231 hielt das Bundesgericht noch Folgendes fest:
“Der Unwägbarkeit, dass […] die Bestimmung der Kinderunterhaltsbeiträge die Höhe des Ehegattenunterhalts beeinflusst, kann mit Eventualanträgen begegnet werden. Auch im Eheschutzverfahren ist es zulässig und oftmals notwendig, für den Fall, dass eigene Hauptbegehren nicht durchdringen sollten, ein oder mehrere Eventualbegehren zu stellen […].”
Das Bundesgericht hat sodann mehrfach klargemacht, dass für die Beurteilung, ob eine Verletzung der Dispositionsmaxime vorliegt, nicht der beantragte Gesamtbetrag für Ehegatten- und Kinderunterhalt massgebend ist; entscheidend ist einzig und allein der Antrag bezüglich Ehegattenunterhalt. So erkannte es im Urteil 5A_970/2017 v. 7.6.2018 eine Verletzung der Dispositionsmaxime, als die Vorinstanz der Ehefrau einen höheren Ehegattenunterhaltsbeitrag zusprach als beantragt und dies damit begründete, der insgesamt zugesprochene Gesamtbetrag aus Ehegatten- und Kinderunterhaltsbeiträgen werde nicht überschritten. Im Urteil 5A_582/2018, 5A_588/2018 v. 1.7.2021 sah das Bundesgericht eine Verletzung der Dispositionsmaxime darin, dass die Vorinstanz den grundsätzlich als berechtigt erachteten Ehegattenunterhaltsbeitrag kürzte, weil ansonsten der beantragte Gesamtbetrag aus Ehegatten- und Kinderunterhalt überschritten worden wäre.
Es ist bemerkenswert, dass das Bundesgericht seine amtlich publizierte Rechtsprechung zu dieser Frage im vorliegenden Urteil nicht anspricht. Eine Rechtsprechungsänderung dürfte mit dem vorliegenden Urteil wohl nicht beabsichtigt gewesen sein; viel eher dürfte es sich um einen Ausreisser handeln.
Aus dogmatischer Sicht ist die bisherige Praxis zu bevorzugen. Es ist verfehlt, für die Verletzung der Dispositionsmaxime auf den Gesamtbetrag aus Ehegatten- und Kinderunterhalt abzustellen, denn einzig der Ehegattenunterhalt, nicht aber der Kinderunterhalt unterliegt der Dispositionsmaxime; für letzteren gilt vielmehr die Offizialmaxime und das Gericht ist nicht an die Parteianträge gebunden. Das Zusammenspiel von Ehegatten- und Kinderunterhalt ist nicht vergleichbar mit der Situation im Haftpflichtrecht, wo das Gericht bei verschiedenen Schadensposten ohne Verletzung der Dispositionsmaxime nur an den geforderten Gesamtschaden gebunden bleibt. Dies, da es sich bei Ehegatten- und Kinderunterhalt um selbständige Ansprüche mit je eigenem rechtlichen Schicksal handelt.
Strebt eine Partei somit insgesamt einen Unterhaltsbeitrag an, muss bezüglich des Ehegattenunterhalts mit Eventualbegehren gearbeitet werden. Für die unterhaltsansprechende Partei könnte ein solches Eventualbegehren wie folgt lauten: “Sollte das Gericht tiefere Kinderunterhaltsbeiträge zusprechen als beantragt, sei der Differenzbetrag zum Ehegattenunterhalt zu schlagen.” Die unterhaltspflichtige Partei könnte ihr Eventualbegehren dagegen wie folgt formulieren: “Sollte das Gericht höhere Kinderunterhaltsbeiträge zusprechen als beantragt, sei der Differenzbetrag vom Ehegattenunterhalt in Abzug zu bringen.”