6B_795/2021: Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase (amtl. Publ.)

Mit dem Urteil 6B_795/2021 vom 27. April 2022 fällte das Bun­des­gericht einen Grund­satzentscheid zur Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase im Sinne von Art. 224 Abs. 1 StGB, nach­dem ein Beschuldigter mit Kle­be­band eine Feuer­w­erk­srakete an ein­er Radaran­lage zur Geschwindigkeitsmes­sung befes­tigt und diese anschliessend gezün­det hat­te, wobei die Det­o­na­tion an der Radaran­lage einen Sach­schaden von Fr. 11’200.80 verur­sacht hat­te. Neb­st Schuld­spruch wegen qual­i­fiziert­er Sachbeschädi­gung stand auch eine Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in ver­brecherisch­er Absicht im Raum, weshalb die Staat­san­waltschaft eine bed­ingte Frei­heitsstrafe von 15 Monat­en forderte.

Der Tatbe­stand der Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in ver­brecherisch­er Absicht gemäss Art. 224 Abs. 1 StGB ist weit gefasst. Wer vorsät­zlich und in ver­brecherisch­er Absicht durch Sprengstoffe oder giftige Gase Leib und Leben von Men­schen oder fremdes Eigen­tum in Gefahr bringt, wird mit Frei­heitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft (Art. 224 Abs. 1 StGB). Ist nur Eigen­tum in unbe­deu­ten­dem Umfange gefährdet wor­den, so kann auf Frei­heitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geld­strafe erkan­nt wer­den (Art. 224 Abs. 2 StGB). Die Verur­sachung ein­er Explo­sion durch Sprengstoffe ist nicht zwin­gend gemeinge­fährlich. Vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Es spielt eine erhe­bliche Rolle, wo der Täter wann eine Explo­sion in welchem Aus­mass verur­sacht. Der Tatbe­stand muss daher wenig­stens vom Gefährdungser­folg her sachgemäss begren­zt wer­den. Daher wer­den vom Tatbe­stand nur Hand­lun­gen erfasst, die von vorn­here­in eine Mehrzahl von Rechts­gütern gefährden, welche die All­ge­mein­heit repräsen­tieren (E. 3).

Bis­lang fol­gte das Bun­des­gericht hier­bei der Indi­vid­u­althe­o­rie, wonach zur Ver­wirk­lichung des Tatbe­stands die konkrete Gefährdung eines bes­timmten Men­schen oder von bes­timmtem frem­den Eigen­tum genügt. Eine Gemeinge­fahr wird dabei nicht voraus­ge­set­zt. Diese Recht­sprechung behielt das Bun­des­gericht in anderem Zusam­men­hang bei, ohne sich ver­tieft damit auseinan­derzuset­zen. Es hielt fest, dass angesichts der ver­gle­ich­sweise hohen Strafan­dro­hung in Art. 224 Abs. 1 StGB eine eher grosse Wahrschein­lichkeit der Ver­let­zung von Men­schen oder Eigen­tum und damit eine eher nahe Gefahr erforder­lich sei. Dies recht­fer­tige sich auch deshalb, weil Art. 224 Abs. 1 StGB keine Gemeinge­fahr voraus­set­ze und schon bei Gefährdung ein­er einzi­gen, indi­vidu­ell bes­timmten Per­son erfüllt sein könne (E. 2.3).

Demge­genüber ver­tritt die herrschende Lehre heute die Repräsen­ta­tion­s­the­o­rie, wonach es erforder­lich ist, dass der gefährdete Men­sch oder das gefährdete fremde Eigen­tum nicht von vorn­here­in indi­vidu­ell bes­timmt sei, son­dern vom Zufall aus­gewählt wird (E. 2.6). Die beson­dere Ver­w­er­flichkeit des gemeinge­fährlichen Delik­ts wird erst dadurch begrün­det, dass die Opfer unbeteiligte Drittper­so­n­en sind, die nicht indi­vidu­ell aus­gewählt wur­den und für den Täter als Repräsen­tan­ten der All­ge­mein­heit erscheinen. Dem­nach muss die Unbes­timmtheit nicht in der Zahl der betrof­fe­nen Rechts­güter liegen, son­dern darin, welche Rechts­güter über­haupt in Gefahr ger­at­en. Um die All­ge­mein­heit zu repräsen­tieren, müssen die Rechts­güter vom Zufall aus­gewählt sein, selb­st wenn im Augen­blick des Angriffs bere­its fest­ste­ht, wen es tre­f­fen kann (E. 3).

In diesem Sinne bestätigte das Bun­des­gericht im vor­liegen­den Fall, dass der Beschuldigte den Tather­gang hat­te kon­trol­lieren kön­nen, weshalb die All­ge­mein­heit nicht gefährdet wor­den sei. Er habe die Feuer­w­erk­srakete an der freis­te­hen­den Radaran­lage ange­bracht und mit­ten in der Nacht gezün­det, als mit keinem Verkehr mehr zu rech­nen gewe­sen sei. Allfäl­lige Verkehrsteil­nehmer hätte der Beschuldigte rechtzeit­ig erken­nen kön­nen, weshalb nie eine Gefahr für einen Men­schen oder eine andere Sache als die Radaran­lage bestanden habe. Somit stand fest, dass die Radaran­lage nicht als vom Zufall aus­gewählte Repräsen­tan­tin der All­ge­mein­heit erschien. Vielmehr suchte der Beschuldigte sie gezielt aus, um sie mit der Feuer­w­erk­srakete zu beschädi­gen. Es fehlte damit am objek­tiv­en Tatbe­standsmerk­mal der Gemeinge­fahr, weshalb eine Verurteilung wegen Gefährdung durch Sprengstoffe in ver­brecherisch­er Absicht auss­chied (E. 4).