4A_398/2021: “Legitimate nationality planning” oder “treaty abuse” (Teil 2)? (amtl. Publ.)

Im Entscheid 4A_398/2021 vom 20. Mai 2022 befasste sich das Bun­des­gericht mit der Frage, unter welchen Voraus­set­zun­gen die Nation­al­ität­ser­werb­s­pla­nung eines Investors rechtsmiss­bräuch­lich sein kann.

Am 15. Jan­u­ar 2011 hielt der dama­lige vene­zolanis­che Präsi­dent eine Rede, in der er unter anderem ankündigte, ein neues Gesetz zur Preis­reg­ulierung ver­ab­schieden zu wollen. Die US-amerikanis­che Mut­terge­sellschaft C. grün­dete am 15. April 2011 die spanis­che Tochterge­sellschaft A. Anlässlich ihrer Grün­dung übertrug C. sämtliche Aktien von D., ein­er Gesellschaft, die Pro­duk­te in der Boli­varischen Repub­lik Venezuela (nach­fol­gend: Venezuela) kom­merzial­isierte, auf A. Im Juli 2011 wurde das angekündigte Gesetz ver­ab­schiedet, im Novem­ber 2011 trat es in Kraft. Zudem trat im April 2012 im Rah­men der Geset­zesän­derung ein Beschluss in Kraft, der gemäss C. zur Kon­se­quenz hat­te, dass die Preise für 73 % ihrer Waren unter den Pro­duk­tion­skosten lagen. A. ini­ti­ierte daraufhin 2015 ein Schiedsver­fahren gestützt auf ein Investi­tion­ss­chutz­abkom­men zwis­chen Spanien und Venezuela und ver­langte Schaden­er­satz für die Ver­let­zung divers­er Bes­tim­mungen dieses Abkommens.

Nach­dem sich das Schieds­gericht für unzuständig erk­lärt hat­te, focht A. den Schiedsspruch vor Bun­des­gericht an. Das Bun­des­gericht kam dabei zum Schluss, dass das Schieds­gericht sich zu Unrecht für unzuständig erk­lärt hat­te (siehe BGE 146 III 142 sowie die Swiss­blawg-Kom­men­tierung). Das Schieds­gericht hat­te sich nach der Rück­weisung des Entschei­ds mit der Frage zu befassen, ob die im 2011 erfol­gte Umstruk­turierung ein rechtsmiss­bräuch­lich­es «Treaty Shop­ping» darstellte, mithin nur erfol­gt war, um vom Investi­tion­ss­chutz­abkom­men prof­i­tieren zu kön­nen. Dies hätte zur Unzuständigkeit des Schieds­gerichts geführt. Das Schieds­gericht verneinte daraufhin einen Rechtsmiss­brauch und erk­lärte sich für zuständig. Gegen diesen Entscheid reichte Venezuela Beschw­erde in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht ein.

Das Bun­des­gericht führte erneut aus, dass es schwierig sei, die Gren­ze zwis­chen legit­imer Nation­al­ität­ser­werb­s­pla­nung («legit­i­mate nation­al­i­ty plan­ning») und Abkom­mensmiss­brauch («treaty abuse») zu ziehen. Es wieder­holte, dass das zeitliche Ele­ment eine entschei­dende Rolle bei dieser Abgren­zung spiele. Einem Investor sei der Schutz eines Investi­tion­ss­chutz­abkom­mens grund­sät­zlich zu ver­weigern, wenn dieser ein Geschäft zum Erwerb der Nation­al­ität in einem Zeit­punkt tätige, in dem die Stre­it­igkeit, die dem Schiedsver­fahren zugrunde liege, vorherse­hbar («forsee­able») gewe­sen sei, und dieses Geschäft nach Treu und Glauben als im Hin­blick auf diese Stre­it­igkeit getätigt zu betra­cht­en sei.

Das Bun­des­gericht erk­lärte anschliessend, dass bei der Beurteilung der Rechts­frage, ob ein Rechtsstre­it vorherse­hbar gewe­sen sei, nicht die Per­spek­tive des betrof­fe­nen Investors mass­gebend sei. Da das Rechtsmiss­brauchsver­bot darauf abziele, objek­tiv nicht schutzwürdi­ge Hand­lun­gen zu beschränken, sei vielmehr danach zu fra­gen, ob für einen vernün­fti­gen Investor, der sich zum Zeit­punkt der Investi­tion in der gle­ichen Sit­u­a­tion wie der betrof­fene Investor befun­den habe, ein bes­timmter Rechtsstre­it vorherse­hbar gewe­sen sei. Da Rechtsmiss­brauch nur in Aus­nah­me­fällen anzunehmen sei, sei das Kri­teri­um der Vorherse­hbarkeit des Rechtsstre­its restrik­tiv auszulegen.

Die Partei, die sich auf einen Rechtsmiss­brauch berufe, habe die Tat­sachen zu beweisen, welche die Vorherse­hbarkeit der Stre­it­igkeit während der Umstruk­turierung bele­gen wür­den. Werde dieser Beweis erbracht, so werde ver­mutet, dass die Umstruk­turierung der Investi­tion im Hin­blick auf den Rechtsstre­it vorgenom­men wor­den und daher miss­bräuch­lich sei. Der betrof­fene Investor könne diese Ver­mu­tung wider­legen, indem er nach­weise, dass die Umstruk­turierung in Wirk­lichkeit haupt­säch­lich aus anderen Grün­den als der Inanspruch­nahme des Schutzes des Investi­tion­ss­chutz­abkom­mens vorgenom­men wor­den sei.

Vor­liegend kam das Bun­des­gericht zum Schluss, dass der Beschw­erde­führerin dieser Beweis nicht gelun­gen sei. Die Rede des Präsi­den­ten würde zwar auf die Möglichkeit hin­deuten, dass die angekündigten Mass­nah­men poten­ziell zu einem Stre­it zwis­chen den Inve­storen und Venezuela führen kön­nten. Indes könne nicht gefol­gert wer­den, dass ein vernün­ftiger Investor in densel­ben Umstän­den aus der Rede des Präsi­den­ten hätte ableit­en kön­nen, dass eine spez­i­fis­che zukün­ftige Stre­it­igkeit vorherse­hbar gewe­sen sei. Auch sei gestützt auf die Rede alleine nicht vorherse­hbar gewe­sen, dass die von einem Investor kom­merzial­isierten Pro­duk­te effek­tiv betrof­fen gewe­sen wären, geschweige denn dass die Auswirkun­gen allfäl­liger Mass­nah­men auf die Pro­duk­te zu einem Rechtsstre­it führen wür­den. Zudem existiere seit 70 Jahren ein Preiskon­troll­sys­tem in Venezuela, was die Beschw­erdegeg­ner­in bzw. die dazuge­höri­gen Grup­penge­sellschaften nicht davon abge­hal­ten hätte, in Venezuela Investi­tio­nen zu täti­gen. Zusam­men­fassend sei es gestützt auf die vom Schieds­gericht fest­gestell­ten Tat­sachen nicht möglich, anzunehmen, dass ein spez­i­fis­ch­er zukün­ftiger Rechtsstre­it im Zeit­punkt der Umstruk­turierung der Investi­tion am 15. April 2011 vorherse­hbar gewe­sen und die Umstruk­turierung daher miss­bräuch­lich sei.

Entsprechend wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde ab.

Ver­fasst von Francesca Borio / Michael Feit