Im Urteil 6B_1412/2021 vom 9. Februar 2023 prüfte das Bundesgericht das Vorliegen eines Härtefalls nach Anordnung einer Landesverweisung für sieben Jahre wegen gewerbsmässigen Diebstahls sowie mehrfachen Hausfriedensbruchs. Die Beschuldigte hatte in einem Zeitraum von 1.5 Jahren rund 40 Ladendiebstähle und Diebstähle zum Nachteil von Privatpersonen begangen und dabei jeweils Portemonnaies und Taschen entwendet, wofür sie zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden war.
Gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. c StGB verweist das Gericht Ausländer, die wegen einer Katalogtat, vorliegend wegen qualifizierten Diebstahls im Sinne von Art. 139 Ziff. 2 StGB, verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5–15 Jahre aus der Schweiz (E. 2.2.1). Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur ausnahmsweise unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass diese (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirkt und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB). Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips und ist restriktiv anzuwenden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur Prüfung eines Härtefalls der Kriterienkatalog in Art. 31 Abs. 1 VZAE heranziehen. Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der Integration, einschliesslich familiäre Bindungen des Ausländers in der Schweiz und in der Heimat, Aufenthaltsdauer, Resozialisierungschancen, Rückfallgefahr und wiederholte Delinquenz (E. 2.2.2).
Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der öffentlichen Interessen an der Landesverweisung. Die obligatorische Landesverweisung ist dann anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur vornehmen, indem massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (E. 2.2.2).
Von einem schweren persönlichen Härtefall ist in der Regel bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen. Nach der Rechtsprechung kann sich der Ausländer auf sein Grundrecht berufen, wenn er besonders intensive soziale und berufliche Verbindungen zur Schweiz aufweist, die über jene einer gewöhnlichen Integration hinausgehen. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen. Ferner kann die Landesverweisung aus der Schweiz für den Betroffenen im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand oder die Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland einen schweren persönlichen Härtefall darstellen oder unverhältnismässig sein (E. 2.2.3).
Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel hat sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung zu orientieren. Art. 8 EMRK verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt. Die Staaten sind daher berechtigt, Delinquenten auszuweisen. Berührt die Ausweisung indes Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, ist der Eingriff nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu rechtfertigen. Erforderlich ist zunächst, dass die aufenthaltsbeendende oder ‑verweigernde Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht und verhältnismässig ist. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind bei der Interessenabwägung insbesondere Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen (E. 2.2.4).
Im vorliegenden Fall bestätigte das Bundesgericht das Urteil der Vorinstanz, wonach die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung, namentlich der Schutz vor Seriendiebstählen, gegenüber den privaten Interessen der Beschwerdeführerin, namentlich ihre lange Anwesenheitsdauer in der Schweiz, ihr schlechter Gesundheitszustand, das Verhältnis zu ihren beiden erwachsenen Söhnen und die Situation im Heimatland Kosovo, am Verbleib in der Schweiz überwiegen (E. 2.5.6). Dies vor allem im Zusammenhang mit der attestierten Therapieunfähigkeit und der negativ ausfallenden Legalprognose der Beschwerdeführerin (E. 2.4.3).