9C_70/2022, 9C_76/2022: Unselbständige Erwerbstätigkeit von Uber-Fahrern (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 9C_70/2022 vom 16. Feb­ru­ar 2023 (vere­inigt mit Ver­fahren 9C_76/2022) befasste sich das Bun­des­gericht aus­führlich mit der Frage, ob UberX‑, UberBlack‑, Uber­Van- und Uber­Green-Fahrer eine unselb­ständi­ge Tätigkeit für die Uber B.V. ausüben und damit der AHV-Pflicht unter­ste­hen (all­ge­meine Fest­stel­lung des Beitragsstatuts). Die selbe Frage stellte sich für Uber­Pop-Fahrer gegenüber der Rasi­er Oper­a­tions B.V. Daneben war auch die Arbeit­ge­ber­stel­lung insofern strit­tig, als das Bun­des­gericht zu beurteilen hat­te, ob die Uber Switzer­land GmbH eine schweiz­erische Betrieb­sstätte der Uber B.V. sei.

Nach Erwä­gun­gen zur Ein­tretens­frage (E. 2) und zur Ver­sicherung­sun­ter­stel­lung (Erwerb­sort­prinzip, E. 3), befasste sich das Bun­des­gericht mit dem Beitragsstatut (E. 4). Konkret sei stre­it­ig und zu prüfen, so das Bun­des­gericht, ob die Vorin­stanz den “typ­is­chen” Uber-Fahrer, der keine eige­nen angestell­ten Fahrer beschäftige und/oder das Uber-Geschäft nicht über eine juris­tis­che Per­son abwick­le, zu Recht als Unselb­ständi­ger­wer­ben­den qual­i­fiziert habe (E. 4.1). Ob indessen der jew­eilige Uber-Fahrer eine Einzelun­ternehmung im Han­del­sreg­is­ter habe ein­tra­gen lassen, sei ohne Belang (E. 4.2 ff.). Eben­so sei nicht zu bean­standen, dass die Vorin­stanz in Fällen, in denen der Fahrer eine juris­tis­che Per­son gegrün­det habe (ob mit oder ohne eigene Angestellte), nicht in all­ge­mein­er Weise über das Beitragsstatut entsch­ieden habe (E. 4.3).

Das Bun­des­gericht befasste sich in der Folge einge­hend mit der Abgren­zung zwis­chen selb­ständi­ger und unselb­ständi­ger Erwerb­stätigkeit (E. 6). Zur Beurteilung, welche Merk­male davon im konkreten Einzelfall über­wiegen, seien in erster Lin­ie die wirtschaftlichen Gegeben­heit­en zwis­chen den Parteien unter der Gesamtwürdi­gung der Umstände, und nicht die Recht­snatur des Ver­tragsver­hält­niss­es mass­gebend (E. 6.2).

Von ein­er unselb­ständi­gen Tätigkeit sei im All­ge­meinen auszuge­hen (E. 6.3):

  • Bei betrieb­swirtschaftlich­er bzw. arbeit­sor­gan­isatorisch­er Abhängigkeit von einem Arbeit­ge­ber ohne spez­i­fis­ches Unternehmerrisiko
  • Wenn die typ­is­chen Merk­male eines Arbeitsver­trags vor­liegen (d.h. Leis­tung auf Dienst auf Zeit, wirtschaftliche Abhängigkeit, Einord­nung in den Betrieb während der Arbeit­szeit, prak­tisch keine andere Erwerb­stätigkeit ausübbar)
    Konkrete Indizien dafür: Vor­liegen eines bes­timmten Arbeit­s­plans, die Notwendigkeit, über den Stand der Arbeit­en Bericht zu erstat­ten sowie das Angewiesen­sein auf die Infra­struk­tur am Arbeitsort
  • Erschöp­fung des wirtschaftlichen Risikos in der (alleini­gen) Abhängigkeit vom per­sön­lichen Arbeit­ser­folg oder (bei regelmäs­sig aus­geübter Tätigkeit) Ein­treten ein­er dem Stel­len­ver­lust ähn­lichen Sit­u­a­tion bei Dahin­fall­en des Erwerbsverhältnisses

Eine selb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit liege im Regelfall vor (E. 6.3):

  • Bei Teil­nahme am wirtschaftlichen Verkehr durch Ein­satz von Arbeit und Kap­i­tal in frei bes­timmter Selb­stor­gan­i­sa­tion, nach aussen sicht­bar und mit dem Ziel, Dien­stleis­tun­gen zu erbrin­gen oder Pro­duk­te zu schaf­fen, deren Inanspruch­nahme oder Erwerb durch geld­w­erte Gegen­leis­tung abge­golten wird
  • Vor­liegen charak­ter­is­tis­ch­er Merk­male wie Täti­gung erhe­blich­er Investi­tio­nen, Benutzung eigen­er Geschäft­sräum­lichkeit­en sowie Beschäf­ti­gung von eigen­em Personal
  • Tra­gen der anfal­l­en­den Kosten unab­hängig vom Arbeit­ser­folg als spez­i­fis­ches Unternehmerrisiko
  • Gle­ichzeit­ige Tätigkeit für mehrere Gesellschaft in eigen­em Namen, ohne indessen von diesen abhängig zu sein (tat­säch­liche Auf­tragslage massgebend)

In Bezug auf den konkreten Fall erwog das Bun­des­gericht, dass die Recht­slage von Per­so­n­en, die in neuen Arbeits­for­men (z.B. sog. Plat­tfor­mar­beit) beschäftigt wür­den, in der Lit­er­atur unein­heitlich beurteilt würde (E. 6.5), die erwäh­n­ten Abgren­zungskri­te­rien aber auch vor­liegend anwend­bar seien (E. 6.6). Das Bun­des­gericht ver­wies zudem auf das Urteil 2C_34/2021 vom 30. Mai 2022, gemäss welchem das Gen­fer Kan­ton­s­gericht nicht willkür­lich entsch­ieden habe, indem es Uber-Fahrer auf kan­tonaler Ebene als Arbeit­nehmer i.S.v. Art. 319 ff. OR qual­i­fiziert habe (E. 6.7).

Ent­ge­gen der Uber B.V., so das Bun­des­gericht, sei der Vorin­stanz beizupflicht­en, wonach sich zwar Ele­mente der selb­st­ständi­gen wie unselb­st­ständi­gen Erwerb­stätigkeit find­en liessen, für das stre­it­ige Jahr 2014 die Gewich­tung der Gesicht­spunk­te aber ein­deutig für das Vor­liegen ein­er unselb­st­ständi­gen Tätigkeit spreche (E. 7.1).

  • Tat­säch­lich­es Weisungsrecht (E. 7.2):
    • Die Vorin­stanz habe zutr­e­f­fend erkan­nt, dass es sich bei den in den ver­traglich als Empfehlun­gen for­mulierten Ver­hal­tensauf­forderun­gen um verbindliche Anweisun­gen an die Fahrer han­dle, deren Ein­hal­tung die Uber B.V. über die Bew­er­tun­gen der Fahrgäste über­prüfe, mithin in der App, welche ihr als Mit­tel zur Kon­trolle und Herrschaft über die Fahrer diene. Mithin könne die Uber B.V. gestützt auf Bew­er­tun­gen den Zugriff des Fahrers in der App deak­tivieren und ihm so den Zugang zu den Uber-Ser­vices ver­weigern (E. 7.2.1).
    • Die Entschei­dungs­frei­heit der Fahrer (mithin Wahl des Autos [inkl. dessen Reini­gung, Ein­rich­tung und Unter­halt], Frei­heit der An- und wieder Abmel­dung von der App, Frei­heit über Annahme ein­er Fahrt und Inhalt der Arbeit [Ort, Dauer, Weg, Werkzeuge etc.]) sei durch zahlre­iche Vorschriften wesentlich eingeschränkt. U.a. werde den Fahrern vorgeschrieben, Fahrtbestel­lun­gen regelmäs­sig anzunehmen solange sie in der App angemeldet seien, anson­sten dies eine soge­nan­nte “neg­a­tive Erfahrung” verur­sache (E. 7.2.2).
  • Aus­geprägtes Sub­or­di­na­tionsver­hält­nis (E. 7.3):
    • Das Argu­ment von Uber B.V., dass der Fahrpreis unverbindlich sei, sei ohne Belang, da der Fahrer nur einen niedrigeren Fahrpreis als den vorgeschla­ge­nen ver­lan­gen könne und dies­falls dieselbe Ser­vicege­bühr an Uber B.V. zu entricht­en habe. Zudem könne Uber B.V. den Fahrpreis anpassen, wenn der Fahrer eine ungün­stige Strecke gewählt habe und behalte sich vor, die Ser­vicege­bühr in alleinigem Ermessen anhand lokaler Mark­t­fak­toren anzu­passen. Von einem zwis­chen gle­ichgestell­ten Parteien aus­ge­han­del­ten Preis könne nicht die Rede sein (E. 7.3.1).
    • Das Bew­er­tungssys­tem diene — trotz Sicher­heit­saspek­ten — in erster Lin­ie der Qual­itätssicherung und der Durch­set­zung eines ein­heitlichen, der Kun­den­zufrieden­heit dienen­den Stan­dards. Bei Nichtein­hal­tung der Vorschriften könne Uber B.V. den Dien­stleis­tungsver­trag “unverzüglich und frist­los” kündi­gen oder den Fahrer über die App “Deak­tivieren”.
    • Dass die GPS-Ortungsmöglichkeit im Inter­esse des Fahrers die Verbindung zum Fahrgast ermögliche, ändere nichts daran, dass die Uber B.V. durch die eng­maschige GPS-Überwachung die Ein­hal­tung ihrer Weisun­gen über­prüfen könne, was die Bedeu­tung der Uber­App als Kon­trol­linstru­ment und let­ztlich das aus­geprägte Sub­or­di­na­tionsver­hält­nis verdeut­liche (E. 7.3.3).
    • Die Flex­i­bil­ität in der Arbeit­szeit und die Frei­heit, sich nach Belieben über­haupt als Dien­stleis­ter bere­itzuhal­ten, seien von der Vorin­stanz als für selb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit sprechende Ele­mente gewürdigt wor­den, wür­den aber eine durch die ganzen Kon­trollmech­a­nis­men während ein Fahrer in der App angemeldet sei, wesentliche Abschwächung erfahren (E. 7.3.4).
    • Hinzu käme, dass der Fahrer den Zielort erst nach Annahme ein­er Kun­de­nan­frage erfahre und ihm somit die für selb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit übliche Möglichkeit fehle, sich nur die rentablen und auf die eigene zeitliche Ver­füg­barkeit abges­timmten Aufträge auszusuchen (E. 7.3.5).
  • Fehlen­des Unternehmer­risiko (E. 7.4):
    • Im Ein­klang mit der Recht­sprechung hin­sichtlich Tax­i­fahrern, könne der Kauf und Unter­halt eines Fahrzeuges nicht als (für selb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit sprechende) erhe­bliche Investi­tion betra­chtet wer­den. Eben­so spreche das Zurver­fü­gung­stellen der IT-Infra­struk­tur und Soft­ware durch die Uber B.V. gegen ein Unternehmer­risiko (E. 7.4.1).
    • Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Uber B.V. habe die Vorin­stanz richtiger­weise das vom Fahrer zu tra­gende Inkas­so- und Delkred­ererisiko als mar­gin­al beurteilt (z.B. im sel­te­nen Fall des Nicht­funk­tion­ierens der Kred­itkarte des Kun­den; zumal diese in der App hin­ter­legt und von der Kred­itkarten­fir­ma über Uber B.V. abgerech­net würde, E. 7.4.2).
    • Ent­ge­gen der Uber B.V. han­dle der Fahrer nicht im eige­nen Namen (E. 7.4.3).
    • Das üblicher­weise Fehlen von eige­nen Geschäft­sräum­lichkeit­en sei auf­grund der Natur der Tätigkeit als nicht sehr gewichtiges Indiz (gegen das Vor­liegen selb­st­ständi­ger Erwerb­stätigkeit) zu beurteilen (E. 7.4.4.).

Dem­nach habe die Vorin­stanz bun­desrecht­skon­form erkan­nt, dass die für unselb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit sprechen­den Merk­male über­wiegen wür­den (E. 7.5).

Den von Uber B.V. erhobe­nen Ein­wand der Ver­let­zung der Gle­ich­be­hand­lung der Konkur­renten, mithin das Prinzip der Rechts­gle­ich­heit (Art. 8 BV), und der Wirtschafts­frei­heit (Art. 27 BV), ver­warf das Bun­des­gericht eben­falls (mit weit­eren Aus­führun­gen E. 7.6; zum Beitragsstatut von Tax­i­fahrern, die ein­er Ver­mit­tlungszen­trale angeschlossen sind, und den entsprechen­den Unter­schieden im rel­e­van­ten Sachver­halt, vgl. E. 7.6.1).

Zur Frage der Notwendigkeit ein­er indi­vidu­ellen Prü­fung (E. 8) erwog das Bun­des­gericht, dass ent­ge­gen der Vorin­stanz die Voraus­set­zun­gen für den Erlass ein­er Fest­stel­lungsver­fü­gung i.S.v. Art. 49 Abs. 2 ATSG für den “typ­is­chen” Uber-Fahrer vor­liegen wür­den und dem­nach nichts gegen das dies­bezügliche Vorge­hen der Aus­gle­ich­skasse einzuwen­den sei. Ins­beson­dere auch weil die ver­tragliche Beziehung der einzel­nen Fahrer und der Uber B.V. durch diesel­ben Doku­mente geregelt wür­den, erscheine eine Prü­fung im Einzelfall nicht erforder­lich (E. 8.2). Lediglich Fahrer, die eigene angestellte Fahrer beschäfti­gen wür­den und/oder das Uber-Geschäft über eine juris­tis­che Per­son abwick­eln wür­den, seien ein­er indi­vidu­ellen Prü­fung zu unterziehen (E. 8.3).

Zur Arbeit­ge­bereigen­schaft (E. 9) erwog das Bun­des­gericht, dass auf­grund der vere­in­barten ver­traglichen Bes­tim­mungen die Uber B.V. (hin­sichtlich der UberX‑, UberBlack‑, Uber Van- und Uber­Green-Fahrer) bzw. die Rasi­er Oper­a­tions B.V. (hin­sichtlich der Uber­Pop-Fahrer) über der­art umfan­gre­iche Weisungsrechte ver­füge, dass die Fahrer von der jew­eili­gen Gesellschaft als betrieb­swirtschaftlich bzw. organ­isatorisch in mass­geben­der Weise abhängig erscheinen. Die jew­eilige Gesellschaft sei damit als Arbeit­ge­berin zu betra­cht­en (E. 9.2).

Weit­er erwog das Bun­des­gericht, dass die Voraus­set­zun­gen für die Annahme ein­er Betrieb­sstätte der Uber B.V. in der Schweiz, namentlich in den Räum­lichkeit­en der Uber Switzer­land GmbH, durch die min­destens teil­weise dort erbracht­en Tätigkeit­en und der fak­tis­chen Ver­fü­gungs­macht über die ständi­gen Anla­gen und Ein­rich­tun­gen seit 2014 erfüllt seien (E. 10; ein­schliesslich Abgren­zung zwis­chen sozialver­sicherungs- und steuer­rechtlichem Betriebsstättenbegriff).

Zur Höhe der Beitrags­forderung erwog das Bun­des­gericht, dass die Vorin­stanz die schätzungsweise Beitrags­fest­set­zung durch die Aus­gle­ich­skasse — man­gels Mitwirkung durch Uber — infolge Willkür ver­wor­fen habe, ohne dabei jedoch die Argu­men­ta­tion der Aus­gle­ich­skasse aus­re­ichend zu würdi­gen (E. 11.4 f.). Da nun aber betr­e­f­fend die UberX‑, UberBlack‑, Uber­Van- und Uber­Green-Fahrer die Arbeit­ge­bereigen­schaft der Uber B.V. fest­ste­he, seien diese verpflichtet, beim Vol­lzug der Sozialver­sicherungs­ge­set­ze unent­geltlich mitzuwirken und die Aus­gle­ich­skasse werde neu über die geschulde­ten Beiträge ver­fü­gen, sobald sie die voll­ständi­gen erforder­lichen Dat­en erhal­ten habe (E. 11.7).

Zu den Unkosten erwog das Bun­des­gericht, dass diese grund­sät­zlich in ihrer tat­säch­lichen Höhe zu mass­gebend und von Uber B.V. noch bele­gen seien, was die Aus­gle­ich­skasse entsprechend zu berück­sichti­gen habe. Für eine von der Aus­gle­ich­skasse beantragte verbindliche Fes­tle­gung beste­he kein Raum (E. 12.).

In teil­weis­er Gutheis­sung der Beschw­erde der Aus­gle­ich­skasse wurde das Ver­fahren zur Neubeurteilung der offe­nen Punk­te an die Vorin­stanz zurück­gewiesen und infolge der Fest­stel­lung des Beitragsstatuts der “typ­is­chen” Uber-Fahrer, die Beschw­erde der Uber B.V. abgewiesen, soweit das Bun­des­gericht darauf eintrat.