4A_184/2022: Anfechtungsobjekt und Fristenlauf des Revisionsgesuchs (amtl. Publ.)

Mit Entscheid 4A_184/2022 vom 8. März 2023 (zur Pub­lika­tion vorge­se­hen) befasste sich das Bun­des­gericht mit einem Revi­sion­s­ge­such gegen einen Zwis­ch­enentscheid und einem Endentscheid eines Schieds­gerichts mit Sitz in Genf in einem Investitionsschutzverfahren.

Auf­grund eines gescheit­erten Pro­jek­ts betr­e­f­fend eine hybride (satellitengestützte/terrestrische) Kom­mu­nika­tion­splat­tform warf die Aa. AG (Gesuchts­geg­ner­in) der Repub­lik Indi­en (Gesuch­stel­lerin) vor, gegen das Abkom­men vom 10. Juli 1995 zwis­chen der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land und der Repub­lik Indi­en über die Förderung und den gegen­seit­i­gen Schutz von Investi­tio­nen (Bilat­erales Investi­tion­ss­chutz­abkom­men, BIT) ver­stossen zu haben.

Im Sep­tem­ber 2013 leit­ete die Aa. AG gestützt auf die im BIT enthal­tene Schied­sklausel beim Per­ma­nent Court of Arbi­tra­tion (PCA) ein Schiedsver­fahren nach den Arbi­tra­tion Rules of the Unit­ed Nations Com­mis­sion on Inter­na­tion­al Trade Law (UNCITRAL Rules) gegen die Repub­lik Indi­en ein. Sie beantragte, die Schieds­beklagte sei wegen Ver­let­zung der Bes­tim­mungen des BIT zur Zahlung von Schaden­er­satz im Betrag von USD 270 Mio. zuzüglich Zins zu verpflicht­en. In der Folge wurde ein Schieds­gericht mit drei Mit­gliedern kon­sti­tu­iert, wobei Genf als Sitz bes­timmt wurde. Die Schieds­beklagte bestritt die Zuständigkeit des Schieds­gerichts. Das Schieds­gericht beschloss in der Folge, das Ver­fahren zunächst auf die Fra­gen sein­er Zuständigkeit und des Grund­satzes der Haf­tung der Schieds­beklagten zu beschränken.
Mit Zwis­chen­schiedsspruch (Inter­im Award) vom Dezem­ber 2017 erk­lärte sich das Schieds­gericht mit Sitz in Genf für zuständig und stellte fest, dass die Schieds­beklagte den Stan­dard der gerecht­en und bil­li­gen Behand­lung (Fair and Equi­table Treat­ment) ver­let­zt habe.  Die Schieds­beklagte erhob gegen den Zwis­chen­schiedsspruch beim Bun­des­gericht Beschw­erde in Zivil­sachen wegen Ver­let­zung von Art. 190 Abs. 2 lit. b und d IPRG mit dem Antrag, es sei der Zwis­chen­schiedsspruch aufzuheben und die Unzuständigkeit des Schieds­gerichts zur Beurteilung des Rechtsstre­its festzustellen. Mit Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezem­ber 2018 wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde ab, soweit es auf sie eintrat.
Mit End­schiedsspruch (Final Award) vom Mai 2020 verurteilte das Schieds­gericht mit Sitz in Genf die Schieds­beklagte zur Zahlung von Schaden­er­satz in der Höhe von USD 93.3 Mio. zuzüglich Zins. Der Schied­sentscheid blieb unangefochten.
Mit Eingabe vom Mai 2022 ersuchte die Schieds­beklagte das Bun­des­gericht unter Beru­fung auf nachträglich ent­deck­te Tat­sachen und Beweis­mit­tel (Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG) um Revi­sion des Zwis­chen­schiedsspruchs vom Dezem­ber 2017 und des End­schiedsspruchs vom Mai 2020 des Schieds­gerichts mit Sitz in Genf. Sie beantragt, es seien die bei­den Schiedssprüche aufzuheben und es sei die Stre­it­sache zu neuer Beurteilung an das Schieds­gericht mit Sitz in Genf zurückzuweisen.
Das Bun­des­gericht erk­lärte, dass es sich sowohl beim Zwis­chen­schiedsspruch vom Dezem­ber 2017 als auch beim End­schiedsspruch vom Mai 2020 grund­sät­zlich um nach Art. 190a IPRG revis­i­ble Schied­sentschei­de han­deln würde. Im zu beurteilen­den Fall sei jedoch zu beacht­en, dass die Gesuch­stel­lerin den Zuständigkeit­sentscheid vom Dezem­ber 2017 beim Bun­des­gericht anfocht und dieses die Beschw­erde mit Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezem­ber 2018 abwies, soweit es auf sie ein­trat. Auf­grund dieses Urteils, mit dem das Bun­des­gericht die Zuständigkeits­frage in rechtlich­er Hin­sicht frei über­prüfen kon­nte und dies­bezüglich auch refor­ma­torisch hätte entschei­den kön­nen, wäre einzig der bun­des­gerichtliche Entscheid 4A_65/2018 ein­er Revi­sion zugänglich. Gegen den schieds­gerichtlichen Zwis­ch­enentscheid vom Dezem­ber 2017 ste­he die Revi­sion hinge­gen nicht offen, weshalb auf das Gesuch insoweit nicht einge­treten wer­den könne. Eine Revi­sion des bun­des­gerichtlichen Urteils 4A_65/2018 vom 11. Dezem­ber 2018 habe die Gesuch­stel­lerin nicht beantragt. Soweit sie vor­bringe, die ange­blich neu ent­deck­ten Tat­sachen und Beweis­mit­tel wirk­ten sich auf die Beurteilung der Zuständigkeit des Schieds­gerichts aus, hät­ten ihre Vor­brin­gen dem­nach unbeachtet zu bleiben. Soweit sich das Revi­sion­s­ge­such gegen den End­schiedsspruch vom Mai 2020 richt­en würde, läge hinge­gen ein zuläs­siges Revi­sion­sob­jekt vor.
Die Gesuch­stel­lerin machte gel­tend, sie habe mit dem Urteil des indis­chen Supreme Court (Supreme Court of India) vom 17. Jan­u­ar 2022 über die Auflö­sung  der B., ein­er Gesellschaft, die zur Durch­führung des Pro­jek­ts gegrün­det wor­den sei, erhe­bliche Tat­sachen erfahren und gle­ichzeit­ig ein entschei­den­des Beweis­mit­tel dafür gefun­den, dass die strit­tige Investi­tion der Gesuchs­geg­ner­in in Indi­en in Form der Beteili­gung an dieser auf betrügerische Weise und damit rechtswidrig getätigt wor­den sei.
Das Revi­sion­s­ge­such ist innert 90 Tagen seit Ent­deck­ung des Revi­sion­s­grun­des einzure­ichen. Nach Ablauf von zehn Jahren seit Ein­tritt der Recht­skraft des Entschei­ds kann die Revi­sion nach Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG nicht mehr ver­langt wer­den (Art. 190a Abs. 2 IPRG). Das Bun­des­gericht erk­lärte, dass in Bezug auf Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG die Ent­deck­ung des Revi­sion­s­grun­des bedeute, dass die gesuch­stel­lende Partei hin­re­ichend sichere Ken­nt­nis von der neuen Tat­sache habe, um sich darauf berufen zu kön­nen, auch wenn sie keinen sicheren Beweis dafür erbrin­gen könne. Blosse Ver­mu­tun­gen reichen nicht aus, um den Lauf der Revi­sions­frist in Gang zu set­zen. Was das entschei­dende Beweis­mit­tel betr­e­ffe, so müsse die gesuch­stel­lende Partei über eine Urkunde ver­fü­gen oder hin­re­ichende Ken­nt­nis davon haben, um die Beweis­ab­nahme zu beantragen.
Die Gesuch­stel­lerin brachte zur Frage der Frist­wahrung vor, sie habe hin­re­ichende Ken­nt­nis des Revi­sion­s­grun­des gemäss Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG am 17. Jan­u­ar 2022 erlangt, als der indis­che Supreme Court sein Urteil erlassen habe, mit dem er die Liq­ui­da­tion von B. anord­nete. Es han­dle sich beim Urteil vom 17. Jan­u­ar 2022 um ein neu ent­deck­tes entschei­den­des Beweis­mit­tel. Zudem habe sie mit diesem Entscheid nachträglich erhe­bliche Tat­sachen erfahren.
Das Bun­des­gericht fol­gte den Vor­brin­gen der Gesuch­stel­lerin nicht: Den eige­nen Aus­führun­gen der Gesuch­stel­lerin zufolge waren ins­ge­samt drei Instanzen mit der Frage der Auflö­sung der Gesellschaft B. befasst, wobei alle drei deren Liq­ui­da­tion anord­neten bzw. diese Anord­nung bestätigten. Der ins Feld geführte Umstand, dass erst das indis­che Höch­st­gericht eine abschliessende Beurteilung der fraglichen Vorgänge um B. bzw. deren Liq­ui­da­tion her­beiführen kon­nte, ändere nichts an der früheren Ken­nt­nis der Gesuch­stel­lerin über die der Auflö­sung zugrun­deliegen­den Tat­sachen. Mass­gebend ist im Hin­blick auf den Revi­sion­s­grund von Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG die Ken­nt­nis der nachträglich ent­deck­ten erhe­blichen Tat­sachen durch die Gesuch­stel­lerin und nicht die autori­ta­tive Fest­stel­lung dieser Tat­sachen — geschweige denn deren defin­i­tive rechtliche Beurteilung — durch eine Gerichtsbehörde.
Ohne­hin sei das ein­gere­ichte Urteil des indis­chen Supreme Court vom 17. Jan­u­ar 2022 erst nach dem Schied­sentscheid vom 27. Mai 2020 ent­standen, wom­it eine Revi­sion gestützt darauf nach dem klaren Wort­laut von Art. 190a Abs. 1 lit. a IPRG von vorn­here­in unzuläs­sig sei.
Das Bun­des­gericht trat aus­gangs­gemäss nicht auf das Revi­sion­s­ge­such ein.