4A_22/2022: Rechtsschutzversicherung, Verjährung des Anspruchs des Versicherten aus Sorgfaltspflichtverletzung gegen den Versicherer (amtl. Publ., FR)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_22/2022 vom 21. Februar 2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, wann der Anspruch des Versicherten aus Vertragsverletzung (Sorgfaltspflichtverletzung bei der Beratung des Versicherten) gegen den Rechtsschutzversicherer verjährt. Das Bundesgericht erwog, dass in einem solchen Fall Art. 127 OR (und nicht Art. 46 VVG) anwendbar ist. Bei diesem Anspruch handelt es sich nicht um «Forderungen aus dem Versicherungsvertrag», sondern um einen vertraglichen Schadenersatzanspruch. Dieser Anspruch aus vertraglicher Haftung entsteht erst nach der Versicherungsleistung aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des Rechtsschutzversicherers, der beraten hat, weshalb er nicht unter Art. 46 Abs. 1 VVG fällt.


Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

A (Ver­sichert­er) hat bei der B AG (Ver­sicher­er) eine Rechtss­chutzver­sicherung abgeschlossen. Nach Erhalt eines Vorbeschei­ds der Invali­den­ver­sicherungsstelle des Kan­tons Bern (IV-Stelle) vom 5. Juni 2015, der ihm eine Dreivier­tel-Invali­den­rente zus­prechen sollte, wandte er sich an seinen Ver­sicher­er, um ihn bei seinen Schrit­ten vor der IV-Stelle zu unterstützen.

Der Ver­sicherte – vertreten durch das Ver­sicherung­sun­ternehmen – machte am 21. Juli 2015 Ein­wände gegen den Vorbescheid gel­tend. Daraufhin erliess die IV-Stelle einen neuen Vorbescheid und hielt fest, dass kein Anspruch auf eine Invali­den­rente beste­he. Der Ver­sicherte – weit­er­hin durch das Ver­sicherung­sun­ternehmen vertreten – machte weit­ere Ein­wände gegen den neuen Vorbescheid gel­tend. Mit Ver­fü­gung vom 14. Dezem­ber 2015 weigerte sich die IV-Stelle, dem Ver­sicherten eine IV-Rente zuzus­prechen. Mit Urteil vom 21. Juni 2016 wies das Ver­wal­tungs­gericht des Kan­tons Bern die Beschw­erde des Ver­sicherten – weit­er­hin vertreten durch den Ver­sicher­er – ab.

Nach Durch­führung des am 14. Mai 2020 ein­geleit­eten Schlich­tungsver­fahrens erhob der Ver­sicherte Klage gegen den Ver­sicher­er, welche vom Tri­bunal région­al Jura bernois-See­land mit Urteil vom 26. Juni 2020 abgewiesen wurde. Das Gericht beschränk­te das Ver­fahren auf die Frage der Ver­jährung und kam zum Schluss, dass der Anspruch ohne­hin ver­jährt sei, da die Ver­jährungs­frist von aArt. 46 VVG mit dem Urteil des Ver­wal­tungs­gerichts vom 21. Juni 2016 ange­fan­gen habe zu laufen. Mit Entscheid vom 3. Dezem­ber 2021 wies das Oberg­ericht des Kan­tons Bern (Vorin­stanz) die Beru­fung des Ver­sicherten ab.

Gegen diesen Entscheid erhob der Ver­sicherte Beschw­erde in Zivil­sachen vor Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde gut, hob den Entscheid auf und wies die Sache an die Vorin­stanz zur Neubeurteilung zurück.


Recht­snatur des Anspruchs nach Art. 46 Abs. 1 VVG

Vor Bun­des­gericht war weit­er­hin strit­tig, ob die kürzere Ver­jährungs­frist von Art. 46 Abs. 1 VVG oder die zehn­jährige Ver­jährungs­frist von Art. 127 OR (wenn Art. 46 Abs. 1 VVG nicht anwend­bar ist, vgl. Art. 100 Abs. 1 VVG) auf den Schaden­er­satzanspruch des Ver­sicherten anwend­bar ist, wenn der Rechtss­chutzver­sicher­er Rechts­ber­atung erteilt hat und dabei seine Sorgfalt­spflicht ver­let­zt und dem Ver­sicherten einen Schaden zuge­fügt hat (E. 5).

Das Bun­des­gericht legte in der Folge Art. 46 Abs. 1 VVG aus: Wie es sich aus der deutschen und ital­ienis­chen Fas­sung von Art. 46 Abs. 1 VVG klar­er ergibt, han­delt es sich bei der «Leis­tungspflicht» gemäss dieser Bes­tim­mung um die Pflicht des Ver­sicher­ers, die im Ver­sicherungsver­trag vorge­se­henen Leis­tun­gen zu erbrin­gen, z.B. bei der Unfal­lver­sicherung die vere­in­barten Leis­tun­gen auf­grund des ver­sicherten Ereigniss­es. Die «Tat­sache», die in dieser Bes­tim­mung erwäh­nt ist, ist der Ein­tritt des Risikos, das die Leis­tungspflicht des Ver­sicher­ers begrün­det. Diese «Tat­sache» ist für die Ansprüche aus den ver­schiede­nen Ver­sicherungskat­e­gorien nicht dieselbe (E. 5.2.1).

Bei ein­er Rechtss­chutzver­sicherung erbringt der Ver­sicher­er ein­er­seits eine Dien­stleis­tung in Form von Rechts­bei­s­tand und ander­er­seits eine Geldleis­tung sowie ab Beginn des Rechtsstre­its die Verpflich­tung, dem Ver­sicherten die Bezahlung der im Zusam­men­hang mit dem Rechtsstre­it ent­stande­nen Kosten zu garantieren (E. 5.2.2).

Nach der Recht­sprechung entspricht bei dieser Ver­sicherung die «Tat­sache», aus der die Verpflich­tung des Ver­sicher­ers entste­ht, der Ver­wirk­lichung des Risikos, d.h. dem Aufkom­men des Bedarfs nach Rechtss­chutz. Die Ver­jährungs­frist nach Art. 46 Abs. 1 VVG begin­nt somit ab diesem Zeit­punkt («dies a quo») und nicht erst mit dem Beginn des Rechtsstre­its mit dem zukün­fti­gen Prozess­geg­n­er, oder mit der Beendi­gung des Ver­fahrens durch ein endgültiges Urteil oder einem Ver­gle­ich. So kann der Ver­sicherte ins­beson­dere ab Ein­tritt des Bedarfs nach Rechtss­chutz eine Kostengut­sprache ver­lan­gen; wird die Kostengut­sprache für einen Teil des Rechtsstre­its erteilt, so kommt dies ein­er Abschlagzahlung gle­ich (Art. 135 Ziff. 1 OR), die die Ver­jährung für die gesamte Forderung des Ver­sicherten unter­bricht. Weigert sich der Ver­sicher­er, die Kosten der Vertre­tung des Ver­sicherten zu übernehmen, so kann dieser eine Klage ein­re­ichen, welche die Ver­jährung unter­bricht. Sobald der Rechtsstre­it been­det ist, stellt die Zahlung durch den Rechtss­chutzver­sicher­er lediglich die Erfül­lung ein­er bere­its beste­hen­den Verpflich­tung dar (E. 5.2.2).

Das Bun­des­gericht erwog, dass die «Forderun­gen aus dem Ver­sicherungsver­trag» gemäss Art. 46 Abs. 1 VVG daher nur solche sind, die der Ver­sicher­er auf­grund des Ein­tritts des ver­sicherten Risikos, d. h. des Bedarfs nach Rechtss­chutz, übernehmen muss (konkret: die Verpflich­tung zur Deck­ung der Kosten eines Rechtsstre­its und/oder die Verpflich­tung zur Erbringung von Beratungsleis­tun­gen). Das Bun­des­gericht kam damit zum Schluss, dass die auf ver­traglich­er Haf­tung beruhende Schaden­er­satz­forderung, die nach der Ver­sicherungsleis­tung (Rechts­ber­atung) entste­ht und aus der Sorgfalt­spflichtver­let­zung des Rechtss­chutzver­sicher­ers, der die Beratungs­di­en­stleis­tung erbracht hat, resul­tiert, nicht unter Art. 46 Abs. 1 VVG fällt (E. 5.2.2).


Anwen­dung von Art. 127 OR vs. Zweck von Art. 46 Abs. 1 VVG

Das Bun­des­gericht erwog, dass die Anwen­dung der zehn­jähri­gen Ver­jährungs­frist von Art. 127 OR, wenn Art. 46 Abs. 1 VVG nicht anwend­bar ist (Art. 100 Abs. 1 VVG), nicht im Wider­spruch zum Zweck von Art. 46 Abs. 1 VVG ste­ht (E. 5.4):

«En effet, con­traire­ment aux pré­ten­tions de l’as­suré nées du risque cou­vert au sens de l’art. 46 al. 1 LCA et ignorées de l’as­sureur tant que l’as­suré ne les fait pas val­oir, la créance en dom­mages-intérêts est fondée sur des faits dont l’as­sureur a connaissance.»

Die Anwen­dung von Art. 127 OR auf die Schaden­er­satz­forderung wird im Übri­gen von einem Teil der Lehre, die sich zu dieser Frage geäussert hat, befür­wortet (E. 5.5).

Das Bun­des­gericht erachtete die Frage, ob der Ver­sicher­er haftpflichtver­sichert ist, als nicht entschei­dend, eben­so wenig wie die Bil­dung ein­er Rück­stel­lung für den vor­liegen­den Rechtsstre­it, da die Ver­jährungs­frist hier wed­er die Dauer des Gerichtsver­fahrens noch diejenige der Rück­stel­lung bee­in­flusst. Da die zehn­jährige Ver­jährungs­frist gemäss Art. 127 OR anwend­bar ist, ist die Ver­jährung nach Art. 127 OR noch nicht einge­treten, weshalb der Entscheid der Vorin­stanz aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung zurück­zuweisen ist (E. 5.6 und E. 6).