4A_389/2022: Internationale Rechtshilfe in Zivilsachen (amtl. Publ.)

In seinem neuen Leit­entscheid präzisierte das Bun­des­gericht, dass die Ver­weigerungs­gründe gemäss Art. 12 Abs. 1 lit. b des  Haager Beweisauf­nah­meübereinkom­mens (HBewUe70) restrik­tiv und eng aus­gelegt wer­den müssten. Ins­beson­dere kön­nten die Begriffe “Gefährdung der Hoheit­srechte” und “Gefährdung der Sicher­heit” nicht so aus­gelegt wer­den, dass dadurch auch die Unvere­in­barkeit der Gutheis­sung eines Recht­shil­fege­suchs mit der inner­staatlichen öffentlichen Ord­nung des ersucht­en Staates gle­ichge­set­zt werde. Art. 12 Abs. 1 lit. b HBewUe70 könne die inner­staatliche öffentliche Ord­nung nur ver­let­zen, wenn es sich um die Ver­let­zung grundle­gen­der, vom inter­na­tionalen Ordre Pub­lic anerkan­nter Ver­fahrens­grund­sätze han­dle. Bei der Beurteilung eines Gesuchs nach dieser Bes­tim­mung sei sodann einzig zu prüfen, ob der Vol­lzug des Recht­shil­fege­suchs selb­st die Sou­veränität oder die Sicher­heit des ersucht­en Staates gefährden kön­nten. Die Möglichkeit, dass die erbete­nen Beweis­mit­tel zu anderen Zweck­en ver­wen­det wer­den kön­nten, müsse auss­er Acht gelassen werden.

Hin­ter­grund war vere­in­facht der Vor­wurf, ein ehe­ma­liger Gen­eraldirek­tor ein­er staatlichen Insti­tu­tion habe sich zu deren Nachteil unrecht­mäs­sig bere­ichert. Im Zuge dieses Vor­wurfs eröffnete die Bun­de­san­waltschaft ein Strafver­fahren. Das Bun­desstrafgericht schränk­te dabei den Zugang der staatlichen Insti­tu­tion zu den Ver­fahren­sak­ten dahinge­hend ein, dass diese die Akten nur in den Räum­lichkeit­en der Bun­de­san­waltschaft ein­se­hen kon­nte, ohne die Möglichkeit, Kopi­en davon zu erstellen. Als Begrün­dung führte das Bun­desstrafgericht an, dass es sich bei der Insti­tu­tion um eine staat­sähn­liche Ein­rich­tung han­dle, so dass die konkrete Gefahr beste­he, dass alle im Rah­men des Strafver­fahrens erhal­te­nen Doku­mente “zur Unzeit” an den Staat weit­ergeleit­et wür­den.  Einige Jahre später leit­ete die staatliche Insti­tu­tion unter anderem gegen den ehe­ma­li­gen Gen­eraldirek­tor sowie eine Bank, bei welch­er der Gen­eraldirek­tor ein Kon­to hielt, vor einem britis­chen Gericht eine Zivilk­lage ein. Im Zuge dieses Ver­fahrens stellte das britis­che Gericht auf Antrag der Bank ein Recht­shil­feer­suchen gestützt auf das HBewUe70 an die Schweiz, welch­es darauf abzielte, dass die Bank die Unter­la­gen über das vom Gen­eraldirek­tor gehal­tene Bankkon­to über­mit­teln solle. Dies solle es der Bank ermöglichen, sich gegen die von der staatlichen Insti­tu­tion gegen sie erhobe­nen Klage zu vertei­di­gen, ohne das Schweiz­er Bankge­heim­nis zu ver­let­zen. Das Gen­fer Gericht erster Instanz hiess das Recht­shil­feer­suchen gut, woraufhin die Cham­bre civile de la Cour de jus­tice des Kan­tons Genf diesen Beschluss aufhob und das Recht­shil­fege­such gestützt auf Art. 12 Abs. 1 lit. b HBewUe70 abwies.

Das Bun­des­gericht rief zunächst die Grund­sätze für die Ausle­gung inter­na­tionaler Verträge in Erin­nerung (E. 4.4), bevor es zur Ausle­gung von Art. 12 Abs. 1 lit. b HBewUe70 schritt (E. 4.5).

Dabei erwog es, dass der Wort­laut dieser Ver­trags­bes­tim­mung in bei­den verbindlichen Sprachen (franzö­sisch und englisch) ähn­lich sei und aus diesem zu schliessen sei, dass ein Recht­shil­fege­such nur aus den in dieser Bes­tim­mung abschliessend aufge­führten Grün­den ver­weigert wer­den könne. Zudem ergebe sich aus der Ausle­gung des Wort­lauts, dass der Vol­lzug des Recht­shil­fege­suchs selb­st und nicht dessen Zweck auss­chlaggebend für die Beurteilung sei, ob das Gesuch die Sou­veränität oder Sicher­heit des ersucht­en Staates beein­trächti­gen könne. Aus dem Wort­laut von Art. 12 HBewUe70 lasse sich somit nicht ableit­en, dass der mit dem Gesuch befasste Richter prüfen müsste, ob die betrof­fe­nen Beweis­mit­tel für andere Zwecke ver­wen­det wer­den kön­nten. Eine solche Ausle­gung werde im Übri­gen durch das vom ständi­gen Büro der Haager Kon­ferenz für Inter­na­tionales Pri­va­trecht erstellte Hand­buch über die prak­tis­che Anwen­dung des Übereinkom­mens , welch­es zwar nicht verbindlich sei, doch ein nüt­zlich­es Doku­ment für die Ausle­gung und Anwen­dung der Bes­tim­mungen des HBewUe70 darstelle, bestätigt (E. 4.5.1).

Sodann würde der Hin­ter­grund, Gegen­stand und Zweck dieses Übereinkom­mens diese Ausle­gung bestäti­gen. So ver­folge das HBewUe70 gemäss Präam­bel das Ziel, die Über­mit­tlung und Erledi­gung von Recht­shil­fege­suchen zu erle­ichtern und die Wirk­samkeit der gegen­seit­i­gen Zusam­me­nar­beit in Ziv­il- und Han­delssachen zu erhöhen. Aus diesem erk­lärten Willen der Ver­tragsstaat­en folge, dass die Aus­nah­men, die es dem ersucht­en Staat erlauben wür­den, ein Recht­shil­fege­such abzuweisen, und damit die Begriffe “Gefährdung der Hoheit­srechte” oder “Gefährdung der Sicher­heit” restrik­tiv aus­gelegt wer­den müssten. Dabei ver­wies das Bun­des­gericht auf seine bish­erige Recht­sprechung (BGE 142 III 116, E. 3.2), wo es ins­beson­dere fest­gestellt hat­te, dass solche Begriffe eng aus­gelegt wer­den müssten (E. 4.5.2). Die Begriffe “Gefährdung der Hoheit­srechte” oder “Gefährdung der Sicher­heit”  kön­nten dabei nicht mit der Unvere­in­barkeit mit der nationalen öffentlichen Ord­nung des ersucht­en Staats gle­ichge­set­zt wer­den, son­dern müssten enger aus­gelegt wer­den (E. 4.5.3).

Sodann wür­den, so das Bun­des­gericht weit­er, Vorar­beit­en zu den ver­schiede­nen Übereinkom­men zu zivil­prozes­sualen Fra­gen, die im Rah­men der ver­schiede­nen Instru­mente der Haager Kon­ferenz für Inter­na­tionales Pri­va­trecht aus­gear­beit­et wur­den, die restrik­tive Ausle­gung der Begriffe “Gefährdung der Hoheit­srechte” oder “Gefährdung der Sicher­heit” bestäti­gen (E. 4.5.4). Dabei ver­wies das Bun­des­gericht auf die Diskus­sio­nen in Den Haag in den Jahren 1893–1894, wo der Vorschlag, die Begriffe “Hoheit­srechte” und “Gefährdung” durch den Aus­druck “öffentliche Ord­nung” zu erset­zen, aus­drück­lich abgelehnt wor­den sei (E. 4.5.4.1). Sodann habe das Bun­des­gericht in seinen am 13. Juni 1901 (BGE 27 I 222) sowie am 1. Okto­ber 1915 (BGE 41 I 328, E. 3) veröf­fentlicht­en Urteilen den restrik­tiv­en Charak­ter dieser Aus­nahme betont (E. 4.5.4.2 und E. 4.5.4.4). Weit­er sei bei den späteren Ver­hand­lun­gen zur Ver­ab­schiedung des Haager Übereinkom­mens über Zivil­prozess­recht von 1905 (HZÜ05) der Vorschlag eines Staates, die Gründe für die Ver­weigerung der Recht­shil­fe auf Fälle der Ver­let­zung “ander­er wesentlich­er sozialer Inter­essen des Lan­des” auszuweit­en, ver­wor­fen wor­den (E. 4.5.4.3). Eben­so habe die Son­derkom­mis­sion der Haager Kon­ferenz in ihrem Bericht aus dem Jahr 1964 erk­lärt, dass die Begriffe “Gefährdung der Hoheit­srechte oder Sicher­heit” noch immer Vor­rang vor der For­mulierung “Ver­let­zung der öffentlichen Ord­nung” hät­ten (E. 4.5.4.5). Schliesslich ver­wies das Bun­des­gericht auf die Lehre, wo zahlre­iche Autoren eben­falls diese restrik­tive Ausle­gung vertreten wür­den (E. 4.5.5).

Gestützt auf diese Erwä­gun­gen kam das Bun­des­gericht zum Schluss, dass BGE 142 III 116, E. 3.2, dahinge­hend zu ver­ste­hen sei, dass eine Ver­let­zung der Grund­prinzip­i­en des schweiz­erischen Zivil­prozess­rechts die Sou­veränität oder die Sicher­heit der Schweiz im Sinne von Art. 12 Abs. 1 lit. b HBewUe70 nur dann ver­let­zen kön­nten, wenn es sich um die Ver­let­zung grundle­gen­der, vom inter­na­tionalen Ordre Pub­lic anerkan­nter Ver­fahrens­grund­sätze han­dle, zu denen ins­beson­dere die Wahrung des Anspruchs auf rechtlich­es Gehör der Per­so­n­en gehören wür­den, die durch die Abweisung eines Recht­shil­feer­suchens in ihren Recht­en betrof­fen wären (E. 4.5.5).

Die Erwä­gun­gen der Vorin­stanz hiel­ten, so das Bun­des­gericht, vor dem Hin­ter­grund dieser Ausle­gung nicht stand. So sei die Möglichkeit, dass die erbete­nen Beweis­mit­tel zu anderen Zweck­en ver­wen­det wer­den kön­nten, nicht rel­e­vant. Eben­so war für das Bun­des­gericht in diesem Fall nicht ersichtlich, dass der Vol­lzug des Recht­shil­feer­suchens per se die Sou­veränität oder die Sicher­heit der Schweiz gefährden kön­nten. Eben­so war für das Bun­des­gericht nicht erkennbar, inwiefern die Zulas­sung des Recht­shil­fege­suchs mit dem inter­na­tionalen Ordre pub­lic unvere­in­bar sein kön­nte. Eben­so könne der Vorin­stanz nicht gefol­gt wer­den, wonach die Abweisung des Recht­shil­fege­suchs mit den Grund­sätzen von Treu und Glauben sowie dem Ver­bot des Rechtsmiss­brauchs begrün­det wer­den könne. Selb­st unter der Annahme, dass solche Grund­sätze Teil des inter­na­tionalen Ordre Pub­lic wären, könne der Vol­lzug des stre­it­ge­gen­ständlichen Recht­shil­fege­suchs nicht als miss­bräuch­lich oder unvere­in­bar mit den Regeln von Treu und Glauben beze­ich­net wer­den. Ins­beson­dere könne der Auf­fas­sung nicht gefol­gt wer­den, wonach der Vol­lzug des strit­ti­gen Gesuchs darauf hin­aus­laufen würde, das in der Schweiz anhängige inter­na­tionale Recht­shil­fever­fahren in Straf­sachen zu umge­hen. Die bei­den Ver­fahren seien unter­schiedlich­er Natur, wür­den nicht unbe­d­ingt diesel­ben Parteien betr­e­f­fen und es wür­den ver­schiedene Staat­en die Schweiz um inter­na­tionale Recht­shil­fe ersuchen. Auch das von den bei­den betrof­fe­nen Staat­en ver­fol­gte Ziel sei unter­schiedlich, da der eine Staat ein­er Partei die Möglichkeit geben wolle, ihre Beweis­mit­tel vorzule­gen, um ihre Rechte in einem Zivil­prozess wahrzunehmen, während der andere Staat im Rah­men der strafrechtlichen Ermit­tlun­gen, die er auf seinem Hoheits­ge­bi­et durch­führe, Beweis­mit­tel sam­meln wolle. Eben­so überzeuge die Behaup­tung der Beschw­erdegeg­n­er, wonach das von der britis­chen Jus­tizbe­hörde gestellte Zivil­recht­shil­fege­such in Wirk­lichkeit von der staatlichen Insti­tu­tion und damit von diesem Staat “ges­teuert” werde, nicht. Die Bank, die im britis­chen Ver­fahren als Beklagte auftrete, habe die britis­chen Richter um inter­na­tionale Recht­shil­fe der Schweiz ersucht, damit sie ihre Vertei­di­gungsmit­tel in Anbe­tra­cht ihrer Verpflich­tun­gen im Zusam­men­hang mit dem Bankge­heim­nis recht­mäs­sig ausüben könne. Wenn ein aus­ländis­ch­er Richter eine Bank mit Sitz in der Schweiz anweise, bes­timmte Bankun­ter­la­gen vorzule­gen, könne die Bank einem solchen Ersuchen nicht nachkom­men, da sie sich damit nach Art. 47 BankG strafrechtlichen Sank­tio­nen aus­set­ze. Neben dem Geheimnish­er­rn könne nur eine Schweiz­er Behörde — vor­liegend der Schweiz­er Richter, der mit einem inter­na­tionalen Recht­shil­fege­such befasst sei — die Bank vom Bankge­heim­nis ent­binden (E. 4.6).

Gestützt auf diese Erwä­gun­gen hob das Bun­des­gericht das Urteil der Cham­bre civile auf, hiess das Recht­shil­feer­suchen gut und wies die Bank an, die aufge­lis­teten Doku­mente vorzule­gen (E. 4.7).