In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_428/2022 vom 18. Januar 2023, hatte das Bundesgericht die bis jetzt offen gelassene Frage zu beantworten, ob das Exequatur-Gesuch im Rechtsbegehren ausdrücklich erwähnt werden muss, wenn der Gesuchsteller einen Arrest gemäss Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG gestützt auf einen vollstreckbaren LugÜ-Entscheid beantragt. Das Bundesgericht erwog, dass das Exequatur-Gesuch nicht als eigenständiges Rechtsbegehren gestellt werden muss, wenn der Arrestgläubiger im Arrestgesuch aufzeigt, dass der LugÜ-Entscheid vollstreckbar ist und der Entscheid und das Formular gemäss Art. 53 Abs. 2 und Art. 54 LugÜ mit dem Arrestgesuch eingereicht wurden. Die Dispositionsmaxime (Art. 58 Abs. 1 ZPO) muss gemäss Bundesgericht in diesem Fall in einem weiteren Sinne verstanden werden.
Diesem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Mit Arrestgesuch vom 12. November 2021 stellte B ein Arrestgesuch gestützt auf einen Entscheid vom Tribunal de Grande Instance de Colmar vom 4. Oktober 2012, welcher vom Entscheid des Cour de cassation vom 18. Januar 2017 bestätigt wurde und gemäss Art. 54 LugÜ bescheinigt wurde. Im Arrestgesuch wurde kein Rechtsbegehren im Zusammenhang mit dem Exequatur der genannten Entscheide gestellt.
Mit Verfügung vom 18. November 2021 erklärte das Genfer Tribunal de première instance den Entscheid vom 4. Oktober 2012 sowie den Entscheid vom 15. April 2015 und den Entscheid vom 18. Januar 2017 für vollstreckbar. Das Genfer Gericht erwog, dass der Arrest erst dann angeordnet werden kann, wenn die Entscheide für vollstreckbar erklärt werden, selbst wenn dies nicht spezifisch beantragt wurde. Die von A dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Entscheid vom 19. April 2022 abgewiesen. Das Bundesgericht wies die Beschwerde in Zivilsachen von A ab, soweit darauf einzutreten war.
Grundsatz: keine vorfrageweise Exequatur-Entscheidung bei einem Arrest gemäss Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG gestützt auf einen LugÜ-Entscheid
Vorliegend hatte das Bundesgericht im Wesentlichen darüber zu entscheiden, ob das Gericht bei Fehlen spezifischer Rechtsbegehren in einem gestützt auf Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG gestellten Arrestgesuch die Vollstreckbarkeit eines LugÜ-Entscheids feststellen darf, der als definitiver Rechtsöffnungstitel vorgelegt wird, mit dem anschliessend der Arrest im Sinne von Art. 38 und 47 Abs. 2 LugÜ erwirkt wird. Unter Hinweis auf BGE 147 III 491 (E. 6.2.1) merkte das Bundesgericht an, dass es diese Frage kürzlich offen gelassen hatte (E. 5).
Zunächst rief das Bundesgericht seine Rechtsprechung in Erinnerung, wonach der Arrestrichter, wenn es sich bei dem vorgelegten definitiven Rechtsöffnungstitel um einen LugÜ-Entscheid handelt, nicht vorfrageweise, sondern definitiv über dessen Exequatur entscheidet (Art. 271 Abs. 3 SchKG). Dies kann entweder in einer separaten Verfügung oder direkt im Arrestbefehl sein und dieser selbständige Entscheid ist rechtskräftig. Die Vollstreckbarerklärung des Entscheids ist die Voraussetzung und nicht die Folge der Arrestbewilligung. Es ist daher ausgeschlossen, dass der Gläubiger einen Arrest auf der Grundlage von Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG erwirken kann, ohne zuvor die Vollstreckbarkeit der Entscheidung zu erlangen. Bei einem Arrest aufgrund eines definitiven Rechtsöffnungstitels, der sich auf ein LugÜ-Urteil stützt, entscheidet das Gericht auch über die Vollstreckbarkeit (Art. 271 Abs. 3 SchKG; BGE 147 III 491, E. 6.2.1; BGer Urteil 5A_103/2022 vom 31. Oktober 2022 E. 3.2.2, zur Publikation vorgesehen; vgl. dazu im swissblawg-Beitrag vom 31. Dezember 2022) (E. 5.2.1.2).
Das Bundesgericht erwog ferner, dass es für den Gläubiger einfach ist, den Nachweis der Vollstreckbarkeit des Urteils zu erbringen. Es genügt nämlich, dem Arrestrichter die von der zuständigen Behörde ausgestellte Bescheinigung gemäss Art. 53 Abs. 2 und 54 LugÜ (ein Formular gemäss Anhang V zum LugÜ) vorzulegen. Die Vorlage des Entscheids und der Bescheinigung nach Art. 54 LugÜ ist daher sowohl notwendig als auch ausreichend, um den Arrestgrund nach Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG glaubhaft zu machen (E. 5.2.1.2).
Das Bundesgericht erinnerte daran, dass der Arrest nach Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG (E. 5.2.1.3)
- entweder gleichzeitig mit der Vollstreckbarerklärung des LugÜ-Urteils durch Einreichung separater Rechtsbegehren im selben Gesuch angeordnet werden kann
- oder erst nach Zustellung der Vollstreckbarerklärung bzw. nach Rechtskraft des Vollstreckungsentscheids beantragt werden kann.
Keine Verletzung der Dispositionsmaxime (Art. 58 Abs.1 ZPO), wenn kein Exequatur im Rechtsbegehren beantragt wurde
Das Bundesgericht hielt fest, dass die Dispositionsmaxime im Arrestverfahren mit Exequatur Anwendung findet (Art. 58 Abs. 1 ZPO) und rief seine Rechtsprechung zur Dispositionsmaxime und zum überspitzten Formalismus in Erinnerung.
Nach Art. 58 Abs. 1 ZPO darf das Gericht einer Partei nicht mehr oder etwas anderes zusprechen, als beantragt wurde, und nicht weniger, als von der Gegenpartei anerkannt wurde. Die Rechtsbegehren der Parteien müssen somit hinreichend bestimmt sein. Wenn das Gericht den Parteianträgen nicht genau entspricht, muss erörtert werden, ob es sich noch im Rahmen der Rechtsbegehren bewegt, ohne mehr als beantragt zuzusprechen oder den Streitgegenstand auf Punkte zu erweitern, die dem Gericht nicht vorgelegt wurden. Die Dispositionsmaxime verbietet es dem Gericht jedoch nicht, die wahre Bedeutung der Rechtsbegehren zu ermitteln und auf dieser Grundlage – anstatt nach ihrem unrichtigen oder ungenauen Wortlaut – zu entscheiden. Das Gericht ist zwar an die Anträge der Parteien gebunden, es kann aber auf der Grundlage von impliziten Anträgen entscheiden: Die Rechtsbegehren sind nämlich im Lichte der Begründung in der Eingabe nach dem Vertrauensprinzip auszulegen. Das Gericht darf darauf zurückgreifen, wenn die Rechtsbegehren unklar bzw. auslegungsbedürftig sind. Die Dispositionsmaxime wird nicht verletzt, wenn das Urteilsdispositiv zwar im Wortlaut von den Rechtsbegehren abweicht, diesen aber inhaltlich entspricht. Das Verbot des überspitzten Formalismus gebietet es seinerseits, bei der Formulierung der Rechtsbegehren nicht zu streng zu sein, wenn es sich aus der Eingabe klar ergibt, was die Partei will (E. 5.2.2.).
Das Bundesgericht kam daher zum Schluss, dass ein formeller Exequatur-Antrag bei einem Arrestbegehren gestützt auf einen LugÜ-Entscheid nicht erforderlich ist, da das LugÜ-Urteil in diesem Fall nicht vorfrageweise für vollstreckbar erklärt werden darf. Auch ohne separates Exequatur-Begehren muss der Gesuchsteller nachweisen, dass der LugÜ-Entscheid vollstreckbar ist und einen definitiven Rechtsöffnungstitel darstellt. Wenn der Arrestgläubiger nicht will, dass der LugÜ-Entscheid im Arrestverfahren für vollstreckbar erklärt wird, muss der Arrestgläubiger sein Arrestgesuch auf einen anderen Arrestgrund (insbesondere Ziff. 4) stützen. Stellt der Arrestrichter fest, dass der Gläubiger den Arrestgrund nach Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG geltend macht, sich aber gegen eine Entscheidung über das Exequatur des LugÜ-Entscheids ausspricht, so muss der Arrestrichter das Arrestbegehren abweisen, ohne die Vollstreckbarkeit des Urteils zu präjudizieren. Äussert sich der Arrestgläubiger nicht gegen eine Entscheidung über das Exequatur, so kann der Richter auch ohne Rechtsbegehren über das Exequatur entscheiden und dieses gutheissen oder abweisen, ohne die Dispositionsmaxime zu verletzen. Schliesslich weist das Bundesgericht darauf hin, dass der Richter, der den Arrest bewilligt, jedoch ohne ausdrücklich über das Exequatur zu entscheiden, implizit auch den gestellten Anträgen entsprochen hat (BGE 147 III 491, E. 6.3).