Im Urteil 5A_597/2022 vom 7. März 2023 setzte sich das Bundesgericht im Rahmen einer Beschwerde gegen einen vorsorglichen Massnahmenentscheid mit der Frage auseinander, wie sich der Überschussanteil eines Kindes unverheirateter Eltern berechnet. Es erachtete die Lösung der Vorinstanz, die den Überschuss des Unterhaltsschuldners im Verhältnis 2:1 auf den unterhaltspflichtigen Elternteil und seine Kinder verteilte, nicht als willkürlich.
Zusammenfassung
Im hier besprochenen Urteil befasste sich das Bundesgericht zum ersten Mal mit der Frage, wie sich der Überschussanteil des Kindes unverheirateter Eltern berechnet. Die Vorinstanz hatte den Überschuss des Unterhaltsschuldners zu je 1/4 seinen beiden Töchtern zugewiesen. Der Unterhaltsschuldner verlangte, den Überschussanteil auf je 1/6 zu begrenzen.
Das Bundesgericht erwog, wenn die Mittel der Familie das familienrechtliche Existenzminimum decken, müsse der verbleibende Überschuss nach Billigkeit unter den Anspruchsberechtigten aufgeteilt werden. Seien die Eltern verheiratet, sei der Überschuss der gesamten Familie, also der kumulierte Überschuss beider Elternteile, heranzuziehen. Diese Aufteilung erfolge in der Regel nach sog. “grossen” und “kleinen Köpfen”; jeder Elternteil erhalte das Doppelte von einem Kind.
Bei unverheirateten Eltern seien zwei Berechnungsmöglichkeiten denkbar. Nach der überwiegenden Meinung der Lehre entspreche der Überschussanteil des Kindes bei unverheirateten Eltern einem kleinen Kopfanteil am Überschuss des unterhaltspflichtigen Elternteils. Der fiktive Anteil des anderen Elternteils — der keinen Anspruch auf Unterhaltsbeiträge habe — verbleibe dem unterhaltspflichtigen Elternteil. Alternativ sei es denkbar, den Überschuss des unterhaltspflichtigen Elternteils im Verhältnis 2:1 auf den unterhaltspflichtigen Elternteil und das Kind aufzuteilen, auch das werde in der Lehre als denkbare Lösung erachtet.
Die Vorinstanz habe sich hier für die zweite Variante entschieden, was nicht willkürlich sei (vgl. zum Ganzen E. 6.1–6.3).
Kommentar
Die Unterschiede zwischen den beiden Berechnungsvarianten lassen sich mit einem Beispiel veranschaulichen: A. und B. sind die unverheirateten Eltern von C. C steht unter alleiniger Obhut von A., B. ist für C. entsprechend unterhaltspflichtig. B. verbleibt nach Deckung seines eigenen Bedarfs, dem Bedarf von C. und dem Betreuungsunterhalt für C. ein Überschuss von Fr. 2’000.–.
- Variante 1 (Mehrheitsmeinung): Der obhutsberechtigte Elternteil A. wird in die Berechnung des Überschussanteils miteinbezogen, wie wenn die Eltern verheiratet wären. Der Überschuss wird rechnerisch nach grossen und kleinen Köpfen auf A. (2/5), B. (2/5) und C. (1/5) aufgeteilt. C. hat entsprechend Anspruch auf einen Überschussanteil von 400.‑-. Der fiktive Anteil von A. in Höhe von Fr. 800.– verbleibt bei B.
- Variante 2 (Vorinstanz): Der obhutsberechtigte Elternteil A. wird nicht in die Berechnung des Überschussanteils miteinbezogen, weil sie keinen Anspruch auf Unterhalt hat. Der Überschuss wird rechnerisch nach grossen und kleinen Köpfen auf B. (2/3) und C. (1/3) aufgeteilt. Entsprechend hat C. Anspruch auf einen Überschussanteil von rund 665.–.
Der unterhaltspflichtige Elternteil wird sich somit dafür aussprechen, den Überschuss nach der Variante 1 zu berechnen, der unterhaltsberechtigte Elternteil wird die Variante 2 bevorzugen.
Da die Prüfungskognition des Bundesgerichts vorliegend auf blosse Willkür beschränkt war, musste sich das Bundesgericht nicht auf eine der beiden Varianten festlegen. Willkür war zu verneinen, nachdem sich die Vorinstanz für die von ihr gewählte Variante 2 auf Lehrmeinungen stützen konnte, auch wenn es sich dabei um die Minderheitsmeinung handelt. Es bleibt mit Spannung zu erwarten, wie das Bundesgericht die Frage beurteilt, wenn es sie es im Zusammenhang mit einer Unterhaltsklage oder einem Scheidungsverfahren mit voller Kognition zu beurteilen haben wird.
Die Variante 1 hat prima vista den Vorzug, dass Kinder verheirateter und unverheirateter Eltern rechnerisch den gleichen Anteil am Überschuss erhalten. Für diese Variante wird denn auch die Gleichbehandlung ins Feld geführt (vgl. Meyer, Unterhaltsberechnung: Ist jetzt alles klar?, in: FamPra.ch 4/2021, S. 904). Allerdings ist zu beachten, dass das Bundesgericht bei verheirateten und unverheirateten Eltern nicht vom gleichen Überschuss ausgeht. Während das Bundesgericht bei verheirateten Eltern vom Überschuss der gesamten Familie ausgeht (vgl. BGE 147 II 265 E. 8.3.2; BGer-Urteil 5A_102/2019 vom 12.12.2019 E. 5.3), geht es bei unverheirateten Eltern einzig vom Überschuss des unterhaltspflichtigen Elternteils aus (vgl. BGer-Urteile 5A_1032/2019 vom 9.6.2020 E. 5.6). Der Überschuss des obhutsberechtigten Elternteils wird bei Kindern unverheirateten Eltern nicht mitberücksichtigt. Im Lichte dieser Rechtsprechung ist bei der Berechnung des Überschussanteils von Kindern unverheirateter Eltern der Variante 2 den Vorzug zu geben. Es wäre widersprüchlich, den obhutsberechtigten Elternteil für die Berechnung des Kopfanteils des Kindes miteinzubeziehen, wenn man dessen Überschuss gar nicht einberechnet. Das für die Variante 1 vorgebrachte Gleichbehandlungsargument dringt somit bei genauer Betrachtung nicht durch, weil man bei Kindern unverheirateter und verheirateter Eltern nicht vom gleichen Überschuss ausgeht. Dieser Umstand rechtfertigt es, den Überschussanteil bei Kindern unverheirateter Eltern anders zu berechnen, als bei Kindern verheirateter Eltern.