Im Urteil 5A_706/2022 vom 21. März 2023 bekräftigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung, wonach eine Pflichtverletzung des volljährigen Kindes gegenüber seinen Eltern die Leistung von Volljährigenunterhalt nur dann unzumutbar macht, wenn das Kind die Pflichtverletzung schuldhaft beging. Dies sei nicht der Fall, wenn das volljährige Kind aufgrund von falschen Erinnerungen seinen Eltern in der Öffentlichkeit vorwirft, ihm gegenüber rituelle (satanistische) Gewaltverbrechen begangen zu haben.
Zusammenfassung
Das hier besprochene Urteil behandelt die Frage, ob es Eltern zumutbar ist, ihrem volljährigen Kind Unterhalt zu bezahlen, wenn dieses ihnen aufgrund von falschen Erinnerungen (sog. Paramnesie bzw. “false memory syndrome”) in der Öffentlichkeit rituelle (satanistische) Gewaltverbrechen vorwirft. Die Vorinstanzen erachteten die Leistung von Volljährigenunterhalt gleichwohl als zumutbar, wogegen sich die Eltern vor Bundesgericht zur Wehr setzten.
Das Bundesgericht erwog, unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit seien nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern und des Kindes, sondern auch die persönliche Beziehung zwischen ihnen und ihrem Kind zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung der persönlichen Zumutbarkeit sei zu beachten, dass Eltern und Kinder einander allen Beistand, alle Rücksicht und Achtung schuldig seien, die das Wohl der Gemeinschaft erfordere (Art. 272 ZGB). Eine Verletzung dieser Pflicht könne die Zahlung von Volljährigenunterhalt im Sinne von Art. 277 Abs. 2 ZGB unzumutbar machen, selbst wenn die Eltern dazu wirtschaftlich in der Lage wären. Vorausgesetzt sei allerdings, dass das volljährige Kind schuldhaft seinen Pflichten der Familie gegenüber nicht nachkomme. Das Kind müsse die Verantwortung dafür tragen, dass das Eltern-Kind-Verhältnis erheblich gestört oder gar zerstört sei, und diese Verantwortung müsse ihm subjektiv zum Vorwurf gereichen.
Gemäss den verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid sei davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin an einer Paramnesie leide. Im Rahmen dieser habe sie die fast unumstössliche Überzeugung gebildet, Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein, und sei nicht in der Lage, zwischen Erlebtem und nicht Erlebtem zu unterscheiden. Für die Frage der subjektiven Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Beschwerdegegnerin sei unter diesen Umständen nicht entscheidend, was sich tatsächlich zugetragen habe und was nicht, sondern ob die Paramnesie ihr Verhalten zu entschulden vermöge.
Ausschlaggebend sei dabei ihre gefestigte innere Überzeugung. Die Schuldhaftigkeit sei damit ähnlich zu beurteilen wie in einer Situation, in welcher ein Missbrauch erwiesenermassen stattgefunden habe. In solchen Konstellationen könne es dem Kind weder zum Vorwurf gemacht werden, dass es den Kontakt zu den Eltern abbreche, noch, dass es über das Erlebte spreche und gegebenenfalls gar ein Strafverfahren anhebe. Das Kind sei nicht verpflichtet, den Ruf und die Befindlichkeit der Eltern zu schützen, indem es das Vorgefallene nicht thematisiere, wenn diese ihre eigene Beistands- und Rücksichtspflicht dem Kind gegenüber missachtet hätten. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer sei bei derart gelagerten Verhältnissen die Rechtsprechung nicht einschlägig, wonach erwachsene Kinder mit zunehmendem Alter in der Lage sein sollten, von früheren Vorkommnissen Abstand zu nehmen.
Analog auf den vorliegenden Sachverhalt angewandt bedeute dies, dass es der Beschwerdegegnerin nicht subjektiv zum Vorwurf gereichen könne, wenn sie ein Strafverfahren gegen ihren Vater veranlasst und die erhobenen Missbrauchsvorwürfe wiederholt auf andere Weise publik gemacht hat. Die hier zu beurteilenden Gegebenheiten seien nicht vergleichbar mit dem Fall eines erwachsenen Kindes, das die Eltern wider besseres Wissen eines strafbaren Verhaltens bezichtige. Daran vermöge nichts zu ändern, dass die Umstände für die Beschwerdeführer äusserst schmerzhaft und belastend seien, denn in einer aussergewöhnlichen Konstellation wie der vorliegenden seien sie es für sämtliche Beteiligten. Es ginge nicht an, die nicht schuldhaft handelnde Beschwerdegegnerin damit zu bestrafen, dass von der gesetzlichen Unterhaltsregelung abgewichen werde. Der angefochtene Entscheid halte vor Bundesrecht stand.
Kommentar
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach Pflichtverletzungen des volljährigen Kindes gegenüber seinen Eltern die Leistung von Volljährigenunterhalt nur dann unzumutbar mache, wenn die Pflichtverletzung dem Kind subjektiv zum Vorwurf gereicht, ist in ihrer Absolutheit abzulehnen. Art. Es sind Konstellationen denkbar, in denen die Pflichtverletzung objektiv so schwer wiegt, dass es den Eltern – und auf deren Sicht ist gemäss Art. 277 Abs. 2 ZGB abzustellen (“soweit es ihnen nach den gesamten Umständen zumutbar ist”) – unzumutbar ist, Volljährigenunterhalt zu leisten, auch wenn das Kind schuldlos gehandelt hat. Man denke an einen Fall, bei dem ein schuld- bzw. urteilsunfähig handelndes Kind gegenüber seinen Eltern oder deren nahen Angehörigen ein schweres Verbrechen gegen Leib und Leben wie eine Tötung oder eine schwere Körperverletzung begeht.
Ob die vorliegende Pflichtverletzung so schwer wiegt, dass sie die Leistung von Volljährigenunterhalt unzumutbar macht, auch wenn das Kind schuldlos handelte, lässt sich ohne detaillierte Kenntnis des Sachverhalts nicht abschliessend beantworten. Es spricht jedoch einiges dafür. So geht aus dem Bundesgerichtsurteil hervor, dass das Kind seine Vorwürfe auch nach rechtskräftiger Einstellung der diesbezüglichen Strafverfahren wiederholt auf andere Weise, unter anderem in einer Maturaarbeit, publik machte. Die Eltern wurden damit erheblich in ihrer Ehre verletzt.
Unklar ist, weshalb das Bundesgericht den Beschwerdeführern im Zusammenhang mit der von ihnen verlangten psychiatrische Begutachtung vorwirft, sie würden verkennen, dass es bei der Frage, ob dem Kind die Zerrüttung des Eltern-Kind-Verhältnisses subjektiv vorgeworfen werden könne, weder um die Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne noch um zivilrechtliche Urteilsfähigkeit gehe. Dem ist zu widersprechen. Was, wenn nicht die Schuld- bzw. die Urteilsfähigkeit soll massgebend sein, wenn man darüber entscheiden muss, ob das Kind schuldhaft handelte?