4A_299/2023 – Ausstand, verspätete Geltendmachung (amtl. Publ.)

Hin­ter­grund dieses Urteils bildete ein Aus­stands­ge­such ein­er Klägerin gegen den lei­t­en­den Gerichtss­chreiber am Bezirks­gericht Win­terthur, der als (nebe­namtlich­er) Ersatzrichter und Ref­er­ent sämtliche Ver­fü­gun­gen in einem Gerichtsver­fahren vor diesem Bezirks­gericht erlassen hat­te. Die Klägerin ver­wies dabei auf die kür­zlich ergan­genen Urteile 1B_420/2022 und 1B_519/2022, in welchen das Bun­des­gericht erwogen hat­te, dass die Ein­set­zung eines Gerichtss­chreibers oder ein­er Gerichtss­chreiberin der entschei­den­den Kam­mer des Oberg­erichts des Kan­tons Zürich als Ersat­zober­richter bzw. Ersat­zober­rich­terin in eben dieser Kam­mer nicht mit dem Anspruch auf ein unab­hängiges Gericht zu vere­in­baren sei.

Das Bezirks­gericht Win­terthur wies das Aus­stands­ge­such ab. Gegen diesen Beschluss erhob die Klägerin erfol­g­los Beschw­erde an das Obergericht.

Vor Bun­des­gericht drang die Klägerin mit ihrer Beschw­erde nicht durch.

Zunächst erin­nerte das Bun­des­gericht an die Rechts­grund­la­gen im Zusam­men­hang mit Aus­stands­ge­suchen und wies ins­beson­dere darauf hin, dass das Bun­des­gericht offen gelassen hätte, ob ein unverzüglich­es Gel­tend­machung auch mehr als 10 Tage bedeuten könne. Allerd­ings seien in der Ver­gan­gen­heit Aus­standss­ge­suche nach 24 Tagen respek­tive 40 Tagen als ver­spätet beurteilt wor­den (E. 2, ins­beson­dere E. 2.4).

Hin­sichtlich der ver­späteten Gel­tend­machung stellte sich die Klägerin auf den Stand­punkt, dass sie bis zu den angerufe­nen Bun­des­gericht­sentschei­den 1B_420/2022 und 1B_519/2022 angesichts der jahrzehn­te­lang prak­tizierten Ein­set­zung von (Lei­t­en­den) Gerichtss­chreibern als Ersatzrichter an den betrof­fe­nen Zürcher Gericht­en davon hätte aus­ge­hen dür­fen, dass diese Prax­is von den Gericht­en nicht als Beein­träch­ti­gung der richter­lichen Unab­hängigkeit beurteilt wer­den würde. Sie habe daher erst nach Ken­nt­nis­nahme des Bun­des­gericht­sentschei­ds vom 1. Novem­ber 2022 die mögliche Gerichts­be­set­zung abgek­lärt und in der Folge unverzüglich ein Aus­stands­ge­such gestellt (E. 3.2).

Diesen Ein­wand liess das Bun­des­gericht nicht gel­ten. Ken­nt­nis des Aus­stands­grunds erfordere, dass ein­er­seits die Mitwirkung der betrof­fe­nen Gerichtsper­son und ander­er­seits die Umstände, die deren Befan­gen­heit begrün­den, bekan­nt seien. Bei­des habe bere­its nach Erhalt der ersten Instruk­tionsver­fü­gung vom 14. Mai 2021 vorgele­gen. Damit habe die Klägerin gewusst, dass ihre Klage vom Lei­t­en­den Gerichtss­chreiber als Ersatzrichter instru­iert werde und dieser am Entscheid als Ref­er­ent mitwirke. Auch sei ihr bere­its zu jen­em Zeit­punkt die per­son­al­rechtliche Stel­lung des Lei­t­en­den Gerichtss­chreibers bekan­nt gewe­sen, aus der sie die Befan­gen­heit ableite. Sie hat­te damit volle Ken­nt­nis der mass­geben­den Umstände, um den Aus­stands­grund gel­tend zu machen. Daran ändere auch nichts, dass die Klägerin zu jen­em Zeit­punkt die konkrete Beset­zung des gesamten Spruchkör­pers noch nicht gekan­nt hätte, da sie den Ein­satz des Lei­t­en­den Gerichtss­chreibers als Ersatzrichter in grund­sät­zlich­er Hin­sicht bestre­ite, also selb­st wenn er als Einzel­richter in ihrem Fall urteilen würde. Zudem ste­he der Lei­t­ende Gerichtss­chreiber nach Mei­n­ung der Beschw­erde­führerin zu allen ordentlichen Gerichtsmit­gliedern in einem Sub­or­di­na­tionsver­hält­nis. Entsprechend wäre er nach Auf­fas­sung der Klägerin bei jed­er in Frage kom­menden Beset­zung befan­gen. Die Klägerin hätte dem­nach unverzüglich nach Ken­nt­nis­nahme, dass der Lei­t­ende Gerichtss­chreiber im vor­liegen­den Ver­fahren als Ersatzrichter einge­set­zt wird, dessen Aus­stand ver­lan­gen müssen (E. 3.3).

Weit­er weist das Bun­des­gericht darauf hin, dass die rechtliche Beurteilung, die das Gericht vornehme, grund­sät­zlich nicht als fris­taus­lösendes Moment zu betra­cht­en sei. Allerd­ings räumt es ein, dass vor­liegend eine Beson­der­heit beste­he, da der Ein­satz von Gerichtss­chreibern als Ersatzrichter in der gle­ichen Kam­mer des Oberg­erichts sich erst auf­grund der rechtlichen Beurteilung des Bun­des­gerichts im Präjudiz vom 9. Sep­tem­ber 2022 als Ein­bruch in die richter­liche Unab­hängigkeit her­aus­gestellt hätte, während dies zuvor während viel­er Jahre toleriert wor­den wäre. In dieser speziellen Sit­u­a­tion könne sich deshalb, so das Bun­des­gericht, die Frage stellen, ob die Ken­nt­nis­nahme vom Präjudiz vom 9. Sep­tem­ber 2022 als fris­taus­lösend im Sinne von Art. 49 Abs. 1 ZPO zu betra­cht­en sei. Allerd­ings sei nicht nachvol­lziehbar, weshalb erst die Ken­nt­nis­nahme vom zweit­en Urteil vom 1. Novem­ber 2022 mass­gebend sein soll, da die vom Bun­des­gericht ver­pönte Sit­u­a­tion als solche bere­its im ersten Präjudiz als Ver­stoss gegen die richter­liche Unab­hängigkeit gew­ertet wor­den wäre und im zweit­en Urteil lediglich über­nom­men wor­den sei. Unab­hängig von dieser Frage sei indessen das am 12. Dezem­ber 2022 gestellte Aus­stands­ge­such als ver­spätet zu betra­cht­en (E. 3.4).

Schliesslich wies das Bun­des­gericht darauf hin, dass die betrof­fene Gerichtsper­son vor­liegend nicht von sich aus hätte in den Aus­stand treten müssen. Eine solche Pflicht beste­he nur, wenn die Umstände, die den Anschein der Befan­gen­heit bewirken wür­den, der­art offen­sichtlich wären, dass der Richter von sich aus hätte in den Aus­stand treten müssen (E. 4.1). Dies könne vor­liegend nicht gesagt wer­den, zumal den bei­den Bun­des­gericht­sentschei­den zum Beizug von Oberg­erichtss­chreibern als Ersat­zober­richter in der gle­ichen Kam­mer bei der Entschei­dung von Haftbeschw­er­den nicht exakt die gle­iche Kon­stel­la­tion zugrunde gele­gen sei, wie sie vor­liegend betr­e­f­fend die Mitwirkung des Lei­t­en­den Gerichtss­chreibers am Bezirks­gericht Win­terthur in einem Zivil­prozess bean­standet werde (E. 4.3). Sodann könne der Aus­stand immer nur im konkreten Einzelfall ver­langt wer­den. Dies gelte auch, wenn der Aus­stands­grund einzig auf ein­er gericht­sor­gan­isatorischen Regelung beruhe. In solchen Fällen ent­falte das Bun­des­gericht­surteil allerd­ings in dem Sinn Appell­wirkung, dass der kan­tonale Geset­zge­ber bzw. die betrof­fe­nen Gerichte ange­sprochen seien, die erforder­lichen Abhil­fe­mass­nah­men zu tre­f­fen, um die Bun­des­gericht­srecht­sprechung generell umzuset­zen. Auch mit Blick auf diese Gegeben­heit, dass der vom Bun­des­gericht bean­standete Anschein der Befan­gen­heit einzig in ein­er gericht­sor­gan­isatorischen Insti­tu­tion gründe, welch­er vor­ab durch organ­i­sa­tion­srechtliche Mass­nah­men abzuhelfen sei, könne dem Lei­t­en­den Gerichtss­chreiber am Bezirks­gericht Win­terthur nicht zum Vor­wurf gere­ichen, dass er im Nach­gang zu den erwäh­n­ten Bun­des­gericht­surteilen nicht von sich aus im hängi­gen Zivil­prozess in den Aus­stand getreten wäre. Offen­sichtlichkeit im Sinne der zitierten Recht­sprechung könne bei dieser Sit­u­a­tion nicht angenom­men wer­den. Damit sei aber, so das Bun­des­gericht nicht gesagt, dass Entsprechen­des auch dann noch gelte, wenn bei Aus­bleiben der erforder­lichen organ­i­sa­tion­srechtlichen Mass­nah­men die gerügten Dop­pel­funk­tio­nen weit­er­hin auftreten soll­ten (E. 4.5).