In diesem zur Publikation vorgesehen Entscheid präzisierte das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines sog. «erbrechtlichen Durchgriffs» im Kontext der Durchsetzung von Ausgleichungsansprüchen. Demnach unterstehen auch solche Zuwendungen der Ausgleichung, welche der Erblasser indirekt über eine von ihm beherrschte juristische Person an seine Nachkommen ausrichtet, wenn er dadurch die Gleichheits- und Gerechtigkeitsidee des Ausgleichungsrechts verletzt (sofern die allg. Voraussetzungen von Art. 626 ZGB erfüllt sind). Ein Rechtsmissbrauch ist nicht vorausgesetzt (E. 4).
Darüber hinaus schützte das Bundesgericht die Erwägungen der Vorinstanz, wonach Art. 608 Abs. 2 ZGB analog auf Erbverträge anwendbar ist. Diese Gesetzesnorm sieht eine Ausgleichszahlung vor, wenn durch Berücksichtigung einer erblasserischen Teilungsregel eine von diesem nicht beabsichtigte wertmässige Ungleichheit der Erbteile entsteht (E. 3.)
Erbrechtlicher Durchgriff im Hinblick auf ausgleichspflichtige Zuwendungen einer vom Erblasser beherrschten Aktiengesellschaft an die Nachkommen
Im vorliegenden Fall war der Erblasser Alleinaktionär einer Aktiengesellschaft und hinterliess fünf Nachkommen. Via seine Aktiengesellschaft hatte er angeblich zu tiefe Mieten für ein Hotel, ein Restaurant und eine Bäckerei/Konditorei gewährt, welche von zwei seiner Nachkommen als Kollektivgesellschaft betrieben wurden. Zudem habe der Erblasser angeblich via seine Aktiengesellschaft den beiden Nachkommen (bzw. ihrer Kollektivgesellschaft) Räume zur unentgeltlichen Benutzung überlassen und ihnen den günstigen Erwerb einer Liegenschaft ermöglicht. Ein Nachkomme machte geltend, dass es sich hierbei um ausgleichspflichtige Zuwendungen i.S.v. Art. 626 Abs. 2 ZGB handle.
Das Bundesgericht präzisierte seine bisherige Rechtsprechung betreffend solche indirekten Zuwendungen (betreffend Informationsansprüche der Erben: BGer 5A_994/2014 vom 11. Januar 2016 sowie betreffend das Auskunftsrecht des amtlichen Liquidators: BGer 5A_620/2007 vom 7. Januar 2010). Im vorliegenden Entscheid führte das Bundesgericht zunächst die allgemeinen Voraussetzungen des Durchgriffs aus, bei deren Vorliegen die rechtliche Selbständigkeit einer juristischen Person ausnahmsweise nicht zu beachten ist (Erw. 4.3.3):
(1) Eine Abhängigkeit der juristischen Person von der sie beherrschenden Person bzw. eine Identität der wirtschaftlichen Interessen;
(2) Ein Rechtsmissbrauch bzw. eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf die rechtliche Selbständigkeit der juristischen Person, um einen ungerechtfertigten Vorteil daraus zu ziehen.
Im Hinblick auf den ausgleichungsrechtlichen Durchgriff stellte das Bundesgericht fest, dass die Einmanngesellschaft zwar ein wichtiger Anwendungsfall des Durchgriffs sei, ein Rechtsmissbrauch hierfür aber nicht zwingend vorliegen müsse. Die Praxis orientiere sich vielmehr auch daran, ob sich (1) unter dem Blickwinkel von Treu und Glauben oder (2) angesichts der drohenden Verletzung legitimer Interessen aufdränge, über die rechtliche Selbständigkeit einer juristischen Person hinwegzusehen. Als legitimes Interesse qualifiziert das BGer das Interesse von Nachkommen, im Nachlass der Eltern zu einem gleichen Teil wie alle anderen Kinder zu partizipieren. Die Legitimität dieses Interesses beruhe auf der vom Gesetzgeber in Art. 626 Abs. 2 ZGB verankerten Gleichheits- und Gerechtigkeitsidee im familiären Kontext (E. 4.3.3).
Entsprechend stehe für den ausgleichungsrechtlichen Durchgriff nicht der «Missbrauch» der rechtlichen Selbständigkeit der juristischen Person im Fokus, sondern die Tatsache, dass der Erblasser seinen Nachkommen einen geldwerten Vorteil unentgeltlich zukommen lässt und dadurch auch sein eigenes Vermögen schmälert. Dies macht Sinn, weil der Erblasser die Nachkommen auch mit einem ausdrücklichen Dispens von der Ausgleichungspflicht befreien könnte, ohne sich hinter der von ihm beherrschten Aktiengesellschaft verstecken zu müssen.
Zusammenfassend sind auch Zuwendungen einer juristischen Person an Nachkommen ausgleichungspflichtig, sofern diese vom Erblasser beherrscht wird und auch die übrigen Voraussetzungen von Art. 626 Abs. 2 ZGB erfüllt sind (obj. und subj. Schenkungscharakter, Ausstattungs- oder Versorgungscharakter; siehe E. 4.3.1.).
Bemerkenswert ist die Feststellung des Bundesgerichts, wonach es vorliegend «nichts Verbindliches» über die (spiegelbildliche) Situation gesagt habe, in der die umstrittenen Zuwendungen vom Erblasser persönlich an eine durch einen Nachkommen beherrschte juristischen Person zufliessen. Dies gelte insbesondere für die Frage, ob die Ausgleichung in dieser Konstellation ein rechtsmissbräuchliches Verhalten voraussetzen würde (E. 4.3.3).
Diese Konstellation wird in der vom Bundesgericht zitierten Lehre (E. 4.3.2) ebenfalls behandelt. Diese bejaht die Möglichkeit eines erbrechtlichen Durchgriffs (auch für die Herabsetzung) m.E. zumeist zu recht, ohne dass ein eigentlicher Rechtsmissbrauch zwingend vorausgesetzt wird (siehe z.B. bei Eitel/Bieri, Der Durchgriff und sein Durchbruch ins Erbrecht, in: Eitel/Zeiter (Hrsg.), Equus und aequus – et cetera – Liber amicorum für Benno Studer zum 70. Geburtstag, Zürich 2019, S. 12 ff. sowie Koller, Durchgriff und indirekte Zuwendungen im Erbrecht, in: AJP 2021, S. 19 ff., dessen Überlegungen das Bundesgericht für die vorliegend zu beurteilende Konstellation weitgehend übernahm).
Ausgleichung des Mehrwerts bei erbvertraglichen Teilungsvorschriften
Schliesslich befasste sich das Bundesgericht mit der Auslegung des Erbvertrags im Hinblick auf die Frage, ob ein aus der Zuteilung der Stimmrechts- und Stammaktien resultierender Mehrwert ausgleichungspflichtig ist (nach Art. 608 Abs. 2 ZGB analog).
Das Aktienkapital war in Stimmrechts- und Stammaktien aufgeteilt. Der Erbvertrag sah eine Verteilung des Aktienkapitals zu gleichen Teilen an die Nachkommen vor. Die Aktien sollten so zugewiesen werden, dass sämtliche Erben kapitalmässig gleich beteiligt sein würden, wobei die im Geschäft mitarbeitenden Nachkommen stimmrechtsmässig die Aktienmehrheit erhalten sollten. Der Erbvertrag wurde zwischen dem Erblasser, seiner vorverstorbenen Ehefrau und den Nachkommen geschlossen.
Der Willensvollstrecker hatte die Aktien so zugeteilt, dass allen Nachkommen nominal CHF 100’000.00 zugewiesen wurden, wobei die zwei im Unternehmen tätigen Nachkommen die Stimmrechtsaktien erhielten. Diejenigen Nachkommen, welche nicht im Unternehmen mitarbeiteten und lediglich Stammaktien erhielten, erhoben eine Erbteilungsklage und beantragten u.a. den Ausgleich des Mehrwerts der Stimmrechtsaktien (Kontrollwert in Höhe von angeblich CHF 8 Mio.).
Die Vorinstanz legte den Erbvertrag objektiviert nach Treu und Glauben aus und erwog, dass die Erbvertragsparteien von einer Gleichwertigkeit der Aktienkategorien ausgegangen seien. Insbesondere hätten sie keine Abrede über die Bewertung der Stimmrechts- und Stammaktien getroffen. Die Erbvertragsparteien hätten im Einklang mit der gesetzlichen Regelung ihren Willen zur vermögensmässigen Gleichbehandlung aller Nachkommen ausgedrückt und den Fall einer Wertdifferenz gar nicht regeln wollen. Die Vorinstanz kam folglich zum Schluss, dass der Erbvertrag keinen Verzicht auf einen Mehrwertausgleich i.S.v. Art. 608 Abs. 2 ZGB (analog) vorsehe. Entsprechend sei der Mehrwert der Stimmrechtsaktien (Kontrollwert in Höhe von angeblich CHF 8 Mio.) unter den Nachkommen auszugleichen.
Das Bundesgericht schützte diese Erwägungen. Insbesondere habe die Vorinstanz zu Recht Art. 608 Abs. 2 ZGB analog angewendet, da nicht eine Verfügung des Erblassers, sondern ein Erbvertrag zur Beurteilung stand (E. 3).