4A_53/2023: Keine Pflicht des Arbeitgebers zur Lohnfortzahlung bei behördlichen Betriebsschliessungen wegen Coronavirus (amtl. Publikation)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 4A_53/2023 vom 30. August 2023 befasste sich das Bun­des­gericht mit der Frage, ob die Arbeit­nehmer im gekündigten Arbeitsver­hält­nis (Beschw­erdegeg­n­er) während der behördlichen Schlies­sung des Inter­nat­be­triebs der Arbeit­ge­berin (Beschw­erde­führerin) einen Anspruch auf Lohn­fortzahlung hat­ten (E. 3.2). Die Vorin­stanzen waren noch der Auf­fas­sung, dass es sich dabei um einen Fall von Annah­mev­erzug han­dle und dem­nach eine Lohn­fortzahlungspflicht beste­he. Begrün­det hat­ten sie dies mit dem Arbeit­srecht charak­ter­is­tis­chen Sozialschutzgedanken und dem Umstand, dass gemäss bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung “die Arbeit­ge­ber typ­is­cher­weise das wirtschaftliche Risiko tra­gen” (E. 3.3). Das Bun­des­gericht hinge­gen hob das Urteil des Kan­ton­s­gerichts St. Gallen auf und bestätigte die von der Beschw­erde­führerin gerügte Ver­let­zung von Art. 324 Abs. 1 OR und Art. 91. OR. Für weit­ere Details zum Sachver­halt, siehe auch den früheren Swiss­blawg-Beitrag zur Medi­en­mit­teilung des Bun­des­gerichts vom 30. August 2023.

Das Bun­des­gericht beant­wortete die in der Lehre umstrit­tene Frage der Lohn­fortzahlungspflicht nach den behördlichen Betrieb­ss­chlies­sun­gen zur Bekämp­fung des Coro­n­avirus (s. E. 4) zu Gun­sten der Arbeit­ge­berin und verneinte somit deren Pflicht zur Lohn­fortzahlung i.S.v. Art. 324 Abs. 1 OR (E. 5). In seinen Erwä­gun­gen hielt das Bun­des­gericht fest, dass Art. 324 OR von Bedeu­tung sei, wo es um die Rechts­folge gehe und nur dies­bezüglich eine lex spe­cialis zur all­ge­meinen Bes­tim­mung von Art. 95 OR darstelle. In Bezug auf den Tatbe­stand greife die Bes­tim­mung bloss auf Art. 91 OR zurück (E. 5.2).

Gemäss Art. 91 OR komme der Gläu­biger in Verzug, wenn er die Annahme der gehörig ange­bote­nen Leis­tung oder die Vor­nahme der ihm obliegen­den Vor­bere­itung­shand­lun­gen, ohne die der Schuld­ner nicht imstande ist zu erfüllen, ungerecht­fer­tigt ver­weigere. Unter Ver­weis auf die Botschaft zu Art. 324 OR erwog das Bun­des­gericht, dass zwar in den meis­ten Fällen, in denen der Arbeit­nehmer die Arbeit­sleis­tung nicht erfüllen könne, den Arbeit­ge­ber ein Ver­schulden tre­ffe. Allerd­ings könne der Arbeit­ge­ber auch aus anderen Grün­den in Annah­mev­erzug ger­at­en, zumal Art. 91 OR für den Gläu­bigerverzug kein Ver­schulden des­sel­ben voraus­set­ze. Gemäss Botschaft gelte die Annah­mev­er­weigerung schon dann als ungerecht­fer­tigt, wenn der Arbeit­ge­ber sich nicht auf einen geset­zlich anerkan­nten Grund berufen könne. Im Umkehrschluss bedeute dies, so das Bun­des­gericht, dass es Fälle geben müsse, in denen die Nich­tan­nahme der Arbeit­sleis­tung gerecht­fer­tigt und der Arbeit­ge­ber von der Lohn­zahlung befre­it sei. Der Geset­zge­ber habe offen­sichtlich nicht jedes beliebige Risiko, das nicht in der Sphäre des Arbeit­nehmers liege, unbe­se­hen dem Arbeit­ge­ber auf­bür­den wollen. Weit­er so das Bun­des­gericht, müsse ein ein “berechtigter Grund” gemeint sein (unter Ver­weis auf die franzö­sis­che Fas­sung von Art. 91 OR; “sans motif légitime”).

Das Bun­des­gericht bezieht sich dabei auf ein Urteil des Oberg­erichts des Kan­tons Luzern vom 30. Novem­ber 1998, gemäss welchem es bei der umstrit­te­nen Grenzziehung zwis­chen berechtigter und ungerecht­fer­tigter Annah­mev­er­weigerung darum gehe, den angemesse­nen Umfang des Betrieb­srisikos zu bes­tim­men, für das der Arbeit­ge­ber einzuste­hen habe (E. 5.2):

Seien näm­lich die Fol­gen von Leis­tungsstörun­gen ein Aus­fluss des Betrieb­srisikos, das der Arbeit­ge­ber tra­gen müsse, dann sei der Verzug im Sinne von Art. 324 OR ungerecht­fer­tigt. Habe hinge­gen der Arbeit­ge­ber für die Leis­tungsstörung nicht einzuste­hen, weil sie ausser­halb seines Betrieb­srisikos liege, dann sei sein Ver­hal­ten gerecht­fer­tigt und er müsse keinen Lohn zahlen.

Dem­nach, so das Bun­des­gericht, trete der Annah­mev­erzug nur ein, wenn das Ver­hal­ten des Arbeit­ge­bers nicht gerecht­fer­tigt sei, mithin kein objek­tiv­er Grund gegeben sei, der alle tre­ffe (E. 5.3).

Mit dem Betrieb­srisiko im arbeit­srechtlichen Kon­text — das unbe­strit­ten­er­massen der Arbeit­ge­ber zu tra­gen habe — seien gemäss Bun­des­gericht in der Regel Umstände gemeint, die in die Risikosphäre des Arbeit­ge­bers fall­en und keine objek­tiv­en Gründe darstellen. Ob dem jew­eils so sei, müsse im Einzelfall bes­timmt wer­den. Ins­beson­dere sei danach zu fra­gen, ob es sich i.S.v. von Art. 91 OR um einen um einen objek­tiv­en Grund oder um einen per­sön­lichen Grund auf Seit­en des Arbeit­ge­bers han­dle (E. 5.4).

Die Betrieb­ss­chlies­sun­gen zur Bekämp­fung des Coro­n­avirus sind als objek­tive Gründe im Sinne von Art. 91 OR zu qual­i­fizieren. Denn sie trafen alle und sind ver­gle­ich­bar mit den vorste­hend erwäh­n­ten Umstän­den, bei denen ein objek­tiv­er Grund bejaht wird. Ins­beson­dere hätte sich ein Arbeit­ge­ber unzu­mut­bar­er rechtlich­er Risiken aus­ge­set­zt, wenn er seinen Betrieb in Ver­let­zung der COVID-19-Verord­nung 2 aufrechter­hal­ten hätte […]. Arbeit­ge­ber, die ihren Betrieb zur Bekämp­fung des Coro­n­avirus schliessen mussten, befan­den sich gegenüber den betrof­fe­nen Arbeit­nehmern somit nicht im Annah­mev­erzug. Fol­glich ist der Tatbe­stand von Art. 324 Abs. 1 OR nicht erfüllt und keine Lohn­fortzahlung geschuldet […].

Die franzö­sis­chsprachige Lehre spreche dabei von Fällen “de force majeure qui néces­si­tent l’adop­tion de mesures col­lec­tives” und beziehe sich fol­glich auf Kon­stel­la­tio­nen, welche die ganze Wirtschaft oder immer­hin grosse Teile davon beträfen (E. 5.4).

Der von den Vorin­stanzen vorge­brachte Ver­weis auf eine Pub­lika­tion des SECO, wonach die Arbeit­nehmer bei ein­er behördlichen Betrieb­ss­chlies­sung einen Anspruch auf Lohn­fortzahlung haben sollen, da das Betriebs- und Wirtschaft­srisiko bei den Arbeit­ge­bern liege, weist das Bun­des­gericht zurück, mit der Bemerkung, dass die Vorin­stanzen dieser Mei­n­ungsäusserung über­mäs­sig Gewicht beigemessen hät­ten. Das SECO sei Kom­pe­tenzzen­trum des Bun­des für die Kern­fra­gen der Wirtschaft­spoli­tik. Seine Direk­tion für Arbeit sorge für klare Regeln in der Arbeits­mark­t­poli­tik, u.a. im Bere­ich des Arbeit­nehmer­schutzes (E. 5.6).

Zur Ausle­gung des pri­vat­en Arbeit­srechts ist aber allein die I. zivil­rechtliche Abteilung des Bun­des­gerichts berufen. Auch die kan­tonalen Zivil­gerichte sind nicht an die Mei­n­ung des SECO gebunden.

Das Bun­des­gericht führte in seinen Erwä­gun­gen weit­ere Beispiele für vom Arbeit­ge­ber zu tra­gende Betrieb­srisiken aus (E. 5.7 f.), hält jedoch daran fest, dass die Betrieb­ss­chlies­sun­gen zur Bekämp­fung des Coro­n­avirus jeden Arbeit­ge­ber ein­er gewis­sen Branche unbe­se­hen sein­er indi­vidu­ellen Lage gle­icher­massen getrof­fen hät­ten und damit über das Risiko hin­aus­gin­gen, das einem einzel­nen Betrieb inhärent sei (E. 5.8).

Weit­er, so das Bun­des­gericht, enthalte wed­er das Epi­demienge­setz noch der Pan­demieplan des Bun­de­samts für Gesund­heit eine Bes­tim­mung, die den Arbeit­ge­bern eine spez­i­fis­che Pflicht zur Vor­bere­itung auf eine dro­hende Pan­demie aufer­legen würde. Betriebe mögen zwar verpflichtet sein, Mass­nah­men zum Schutz der Arbeit­nehmer beim Umgang mit und der Expo­si­tion gegenüber Mikroor­gan­is­men zu tre­f­fen, um diese vor Ansteck­ung zu schützen. Daraus könne aber nicht hergeleit­et wer­den, dass eine weltweite Pan­demie zum Betrieb­srisiko gehöre (E. 5.9).

Schliesslich verneinte das Bun­des­gericht auch das Kri­teri­um der Vorherse­hbarkeit eines Arbeit­saus­falls, soweit dieses über­haupt ein geeignetes Kri­teri­um zur Beurteilung der Lohn­fortzahlungspflicht darstelle (E. 5.10). Trotz bere­its früher auftre­tenden Epi­demien sei die Covid-19-Pan­demie plöt­zlich und uner­wartet aufge­treten. Unter Ver­weis auf die dama­li­gen Börsenkurse schliesst das Bun­des­gericht, dass das Coro­n­avirus noch anfangs Feb­ru­ar 2020 als lokales Prob­lem in Chi­na betra­chtet wor­den sei.

Demzu­folge hiess das Bun­des­gericht die Beschw­erde gut und wies das ange­focht­ene Urteil an die Vorin­stanz zurück zur Neubeurteilung der Frage, ob eine 100%-ige Umstel­lung auf Online-Unter­richt möglich gewe­sen wäre, wom­it gemäss den Beschw­erdegeg­n­ern keine Minusstun­den ange­fall­en wären, sowie zur Quan­tifizierung der Minusstun­den (E. 6 f.).