5A_936/2022: Begrenzung des Überschussanteils bei der Berechnung von Kindesunterhaltsbeiträgen

Das Bun­des­gericht stellt im Urteil 5A_936/2022 vom 8. Novem­ber 2023 klar, dass es unzuläs­sig ist, den Über­schus­san­teil des Kindes pauschal auf einen bes­timmten Prozentsatz des fam­i­lien­rechtlichen Exis­tenzmin­i­mums zu begren­zen. Eben­so ist es unstatthaft, den Über­schus­san­teil allein mit Ver­weis auf die Lebensstel­lung des betreuen­den Eltern­teils zu begren­zen oder deswe­gen, weil der Über­schuss aus einem hypo­thetis­chen Einkom­men stammt.

Zusam­men­fas­sung

Anlass zur Beschw­erde an das Bun­des­gericht gab im vor­liegen­den Fall die vorin­stan­zliche Vorge­hensweise bei der Fes­tle­gung des Über­schus­san­teils des Kindes. Die Vorin­stanz hat­te den Über­schus­san­teil des Kindes pauschal auf die Hälfte des zuvor fest­gestell­ten fam­i­lien­rechtlichen Exis­tenzmin­i­mums des Kindes beschränkt. Die Vorin­stanzen begrün­de­ten dies damit, dass der Lebens­stan­dard des Kindes nie durch die finanziellen Ver­hält­nisse des unter­halt­spflichti­gen Eltern­teils bee­in­flusst wor­den sei, da die Eltern nicht ver­heiratet seien und nie zusam­men­gelebt hät­ten. Zudem resul­tiere der Über­schuss des unter­halt­spflichti­gen Eltern­teils aus einem hypo­thetis­chen Einkom­men. Schliesslich sei auch unter Berück­sich­ti­gung erzieherisch­er Gründe und des Bedarfs des Kindes eine Abwe­ichung von der Verteil­regel nach grossen und kleinen Köpfen gerecht­fer­tigt (E. 4.1).

Das Bun­des­gericht erwog, die rech­ner­isch resul­tieren­den Über­schüsse seien im Grund­satz nach “grossen und kleinen Köpfen” zu verteilen. Indes könne und müsse im begrün­de­ten Einzelfall ermessensweise von diesem Grund­satz abgewichen wer­den. Der Über­schus­san­teil sei nicht für die Ver­mö­gens­bil­dung bes­timmt, son­dern diene der Deck­ung des laufend­en Bedarfs des Kindes. Daher solle sich dieser  bei hohen Über­schüssen nicht lin­ear ins Uner­messliche erstreck­en, son­dern sei er im Einzelfall aus erzieherischen und konkreten Bedarf­s­grün­den angemessen zu begren­zen. Fern­er sei zu bemerken, dass sich der aus dem Über­schuss zu finanzierende Bedarf des Kindes (Freizeitak­tiv­itäten, Hob­bies, Ferien u.ä.m.) nach der all­ge­meinen Lebenser­fahrung mit steigen­dem Alter des Kindes erhöhe, und fol­glich für die Begren­zung des dem Kind zuste­hen­den Über­schus­san­teils ger­ade bei gün­sti­gen Ver­hält­nis­sen auch sein Alter mit­berück­sichtigt wer­den dürfe. Schliesslich hät­ten nicht miteinan­der ver­heiratete Eltern keinen eige­nen Unter­halt­sanspruch gegenüber dem andern Eltern­teil und keinen Anspruch auf Teil­habe an der jew­eili­gen Lebensstel­lung. Deshalb sei bei nicht miteinan­der ver­heirateten Eltern sicherzustellen, dass der betreuende Eltern­teil nicht aus dem Über­schus­san­teil des Kindes quer­sub­ven­tion­iert werde (E. 3.3).

Das Vorge­hen im konkreten Fall lasse sich nicht mit diesen Grund­sätzen vere­in­baren: Es sei unzuläs­sig, für die Fes­tle­gung des Über­schus­san­teils sys­tem­a­tisch am fam­i­lien­rechtlichen Exis­tenzmin­i­mum des Kindes anzuknüpfen und diesen in einem irgend­wie geart­eten Ver­hält­nis dazu zu begren­zen. Eben­sowenig könne es darauf ankom­men, ob der Über­schuss aus einem tat­säch­lichen oder einem hypo­thetisch ermit­tel­ten Einkom­men resul­tiere. Eine der­ar­tige Unter­schei­dung liefe dem im Unter­halt­srecht gel­tenden all­ge­meinen Grund­satz der umfassenden Auss­chöp­fung der vorhan­de­nen Arbeit­ska­paz­ität zuwider. Unzuläs­sig sei es fern­er, den Über­schus­san­teil allein auf­grund der Lebensstel­lung des (haupt)betreuenden Eltern­teils zu begren­zen. Auch bei getren­nt leben­den Eltern habe das Kind in Anwen­dung von Art. 285 Abs. 1 ZGB einen Anspruch, an der Lebensstel­lung des unter­halt­spflichti­gen Eltern­teils teilzuhaben. Lebe ein Eltern­teil in beschei­deneren Ver­hält­nis­sen, solle das Kind nicht vom finanziell bess­er gestell­ten Eltern­teil weniger Unter­halt erhal­ten, als diesem zustünde, wenn bei­de Eltern in wirtschaftlich guten Ver­hält­nis­sen lebten. Begren­zend könne sich indes die Gefahr ein­er Quer­sub­ven­tion­ierung des nicht unter­halts­berechtigten Eltern­teils auswirken (E. 4.3.1).

Dem­nach erachtete das Bun­des­gericht die Beschw­erde als begrün­det. Den ange­focht­e­nen Entscheid hob es auf und wies die Sache zur Neu­berech­nung des Barun­ter­halts an die Vorin­stanz zurück (E. 4.3.2).

Kom­men­tar

Das Urteil überzeugt. Ins­beson­dere hält das Bun­des­gericht zu Recht fest, dass eine Lim­i­tierung des Über­schus­san­teils des Kindes stets mit den Umstän­den des konkreten Einzelfalls begrün­det wer­den muss. Eine sys­tem­a­tis­che, pauschale Begren­zung auf 50 % des fam­i­lien­rechtlichen Exis­tenzmin­i­mums − wie dies in Lehre und Recht­sprechung bis anhin teil­weise gefordert wurde (vgl. Schwizer/Oeri, “Neues” Unter­halt­srecht?, in: AJP 2022, S. 7) − ist unzuläs­sig. Soll der Über­schus­san­teil aus Bedarf­s­grün­den begren­zt wer­den, ist die Begren­zung des Über­schus­san­teils daher mit Aus­führun­gen zum konkreten Bedarf des Kindes zu plau­si­bil­isieren (eben­so Althaus/Mettler, Prax­is­fra­gen zur Über­schussverteilung, in: FamPra.ch 4/2023, S. 892). Zu war­nen ist indes vor über­höht­en Anforderun­gen an die Plau­si­bil­isierung. Eine kom­plexe und zeit­in­ten­sive Berech­nung des tat­säch­lichen Bedarfs ana­log der ein­stu­fi­gen Meth­ode muss ver­mieden werden.

Eben­so ist zu begrüssen, dass das Bun­des­gericht eine Begren­zung des Über­schus­san­teils alleine mit dem Ver­weis auf die Lebensstel­lung des betreuen­den Eltern­teils ablehnt. Eine Begren­zung des Über­schus­san­teils auf­grund ein­er im Ver­gle­ich zum Unter­haltss­chuld­ner tief­er­en Lebensstel­lung des betreuen­den Eltern­teils wäre nur dann denkbar, wenn der betreuende Eltern­teil nicht bere­it wäre, einen grosszügigeren Über­schus­san­teil zugun­sten des Kindes einzuset­zen und der Über­schus­san­teil daher zweck­ent­fremdet würde (BGer-Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 E. 6.2.1.3). Davon ist jedoch im Regelfall nicht auszuge­hen und der Über­schus­san­teil nicht zu begren­zen. Bei Zweck­ent­frem­dung sind sodann vor ein­er Kürzung des Unter­halts­beitrags primär geeignete Kindess­chutz­mass­nah­men anzu­peilen (BGer-Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 E. 6.2.1.3).