4A_368/2023: Missbräuchliche Kündigung; keine Anwendbarkeit der strafprozessualen Grundsätze bei internen Untersuchungen

Im Urteil 4A_368/2023 vom 19. Jan­u­ar 2023 befasste sich das Bun­des­gericht mit der Kündi­gung ein­er Bank (Arbeit­ge­berin und Beschw­erde­führerin) gegenüber einem Direc­tor (Arbeit­nehmer und Beschw­erdegeg­n­er), welch­er nach durchge­führter intern­er Unter­suchung zur Abklärung von Vor­wür­fen sex­ueller Beläs­ti­gung ent­lassen wor­den war. Der Arbeit­nehmer hat­te die Kündi­gung ange­focht­en, weil er die Art und Weise der­sel­ben als miss­bräuch­lich erachtete (E. 3).

Die erste Instanz habe erwogen, dass es uner­he­blich sei, ob die Vor­würfe der sex­uellen Beläs­ti­gung zuträfen — rel­e­vant sei nur ob die Beschw­erde­führerin die Vor­würfe genü­gend unter­sucht habe, was diese bejahte (E. 3.2). Demge­genüber gelangte die Vorin­stanz in Anlehnung an die straf­prozes­sualen Grund­sätze zur  Ansicht, der Beschw­erdegeg­n­er hätte sich nicht genü­gend wehren bzw. wirk­sam gegen die Vor­würfe vertei­di­gen kön­nen (E. 3.2).

Das Bun­des­gericht stellte zunächst klar, dass die Vorin­stanz das herange­zo­gene Urteil 4A_694/2016 vom 4. Mai 2016 zu weit inter­pretiert habe und die straf­prozes­sualen Garantien keine direk­te Wirkung auf interne Unter­suchun­gen eines Arbeit­ge­bers haben (E. 4.1).  Die Über­nahme straf­prozes­sualer Regeln ins Pri­va­trecht ver­bi­ete sich schon auf­grund der grundle­gen­den Unter­schiede der Rechtsver­hält­nisse; während die Parteien eines Arbeitsver­hält­niss­es dieses Dauer­schuld­ver­hält­nis frei­willig eingin­gen, werde eine beschuldigte Per­son im Strafver­fahren unab­hängig von ihrem Willen der staatlichen Strafge­walt und der autori­ta­tiv­en Buss- und Strafkom­pe­tenz unter­wor­fen. In keinem anderen Rechts­ge­bi­et seien ein­schnei­den­dere Ein­griffe in die Grun­drechte denkbar, wohinge­gen vor­liegend im Bere­ich des arbeit­srechtlichen Kündi­gungss­chutz dem Arbeit­nehmer schlimm­sten­falls eine ordentliche Kündi­gung dro­he (E. 4.1).

Nach den unbe­strit­te­nen vorin­stan­zlichen Fest­stel­lun­gen, so das Bun­des­gericht, habe sich Ende August 2018 eine Mitar­bei­t­erin der Beschw­erde­führerin an deren Ombudsstelle für Ver­hal­ten und Ethik gewandt und sex­uelle Beläs­ti­gun­gen durch den Beschw­erdegeg­n­er gemeldet. In der Folge seien neb­st dieser Mitar­bei­t­erin weit­ere Per­so­n­en im Umfeld des Beschw­erdegeg­n­ers befragt und ein Teil sein­er elek­tro­n­is­chen Kom­mu­nika­tion hin­sichtlich Äusserun­gen über die ange­blich belästigte Mitar­bei­t­erin unter­sucht wor­den. Sodann sei der Beschw­erdegeg­n­er am 20. Sep­tem­ber 2018 ange­hört und ihm danach das Pro­tokoll zur Durch­sicht zugestellt wor­den. Er hätte daran diverse Änderun­gen vorgenom­men. Nach sein­er Anhörung sei die Beschw­erde­führerin zum Schluss gekom­men, dass die Aus­sagen des Beschw­erdegeg­n­ers wenig glaub­haft seien und im Wider­spruch zu den Aus­sagen der anderen befragten Per­so­n­en stün­den. Ins­ge­samt befand sie, dass die von der anzeigen­den Mitar­bei­t­erin und weit­eren Mitar­bei­t­en­den beschriebe­nen, unangemesse­nen Ver­hal­tensweisen mit gross­er Wahrschein­lichkeit stattge­fun­den hät­ten. Im Unter­suchungs­bericht sei deshalb die Ein­leitung eines Diszi­pli­narver­fahrens gegen den Beschw­erdegeg­n­er emp­fohlen wor­den, woraufhin die zuständi­ge Diszi­pli­narstelle Mitte Okto­ber die ordentliche Kündi­gung des Beschw­erdegeg­n­ers beschlossen habe, welche Ende Okto­ber 2018 aus­ge­sprochen wor­den sei (E. 4.3).

Im Zusam­men­hang mit dem Vorge­hen bei der Durch­führung der inter­nen Unter­suchung erwog das Bun­des­gericht, dass es ent­ge­gen der Vorin­stanz nicht zu bean­standen sei, dass der Beschw­erdegeg­n­er erst zu Beginn des Gesprächs über dessen Zweck und Inhalt informiert wor­den sei. Zudem habe der Beschw­erdegeg­n­er das Gespräch­spro­tokoll kor­rigieren und eine sep­a­rate schriftliche Stel­lung­nahme dazu abgeben kön­nen (E. 4.4.1).

Weit­er erwog das Bun­des­gericht, dass die Vorin­stanz der Beschw­erde­führerin zu Unrecht vorge­wor­fen habe, dass der Beschw­erdegeg­n­er sich beim Gespräch im Sep­tem­ber nicht gemäss internem Merk­blatt von ein­er Ver­trauensper­son habe begleit­en lassen kön­nen. Es genüge sog­ar nach — den vor­liegend nicht anwend­baren — stren­gen straf­prozes­sualen Grund­sätzen, die beschuldigte Per­son erst zu Beginn der ersten Ein­ver­nahme auf ihr Recht zur Vertei­di­gung hinzuweisen und nur schon deshalb könne das Fehlen ein­er Ver­trauensper­son keinen der­art gravieren­den Man­gel darstellen, dass die Kündi­gung miss­bräuch­lich erscheine. Dies gelte umso mehr, als der Beschw­erdegeg­n­er nicht behaupte, ein weit­eres Gespräch in Anwe­sen­heit ein­er Ver­trauensper­son ver­langt zu haben (E. 4.4.2).

In Anlehnung an das Anklageprinzip, so das Bun­des­gericht, habe die Vorin­stanz der Beschw­erde­führerin weit­er vorge­wor­fen, den Beschw­erdegeg­n­er nicht hin­re­ichend über die ihm gegenüber erhobe­nen  Vor­würfe aufgek­lärt zu haben. Sie ver­lange von der Beschw­erde­führerin, dass sie dem Beschw­erdegeg­n­er genau hätte mit­teilen müssen, wann er wen, wo und wie sex­uell belästigt habe. Das Bun­des­gericht erwog erneut, dass die interne Unter­suchung eines pri­vat­en Arbeit­ge­bers nicht mit ein­er staatlichen Stra­fun­ter­suchung zu ver­gle­ichen sei. Im Übri­gen beste­he ein Zielkon­flikt zwis­chen dem legit­i­men Selb­stvertei­di­gungsrecht des beschuldigten Arbeit­nehmers und dem Schutz der melden­den Per­so­n­en. In der Lehre sei unbe­strit­ten, dass deren Iden­tität ver­traulich zu behan­deln sei; jeden­falls ste­he auf­grund möglich­er Repres­salien auss­er Frage, dass die Iden­tität der melden­den Per­son gegenüber dem beschuldigten Arbeit­nehmer geheim zu hal­ten sei. Disku­tiert werde bloss, ob die Mel­dung auf anonymer Basis erstat­tet wer­den könne oder ob die Per­son­alien zumin­d­est der Meldestelle bekan­nt sein müssten (E. 4.4.4).

Es sei, so das Bun­des­gericht, in Übere­in­stim­mung mit den Vor­brin­gen der Beschw­erde­führerin nicht zutr­e­f­fend, dass die Vor­würfe gegenüber dem Beschw­erdegeg­n­er völ­lig vage geblieben seien. Die Beschw­erde­führerin habe dargelegt, dass dem Beschw­erdegeg­n­er der Vor­wurf eröffnet wor­den sei, er habe bei einem Fir­me­nan­lass im Novem­ber 2017 Mitar­bei­t­erin­nen in unge­bührlich­er Weise berührt. Weit­er sei er gefragt wor­den, ob er Mitar­bei­t­erin­nen im Büro umarmt sowie am Ober­schenkel oder am Rock berührt habe, ob er sich zu den pri­vat­en und sex­uellen Beziehun­gen von Mitar­bei­t­erin­nen geäussert habe, ob er gegenüber Mitar­bei­t­erin­nen gesagt habe, dass er gerne kör­per­liche Nähe mit ihnen hätte oder ob er gesagt habe, dass er es bevorzuge, wenn Frauen High Heels und kurze Röcke tra­gen. Damit habe die Beschw­erde­führerin gemäss Bun­des­gericht überzeu­gend vor­ge­tra­gen, dass die Vor­würfe gemessen an den Anforderun­gen an eine interne Unter­suchung hin­re­ichend präzis waren. Im Gegen­satz zum Strafrecht, wo es keine “Ver­dachtsverurteilun­gen” gäbe, seien im Arbeit­srecht Ver­dacht­skündi­gun­gen zuläs­sig und nicht ein­mal dann miss­bräuch­lich, wenn sich der Ver­dacht später als unbe­grün­det erweise. Fol­glich müsse der Arbeit­ge­ber nicht beweisen, dass die Vor­würfe zuträfen (E. 4.4.4).

Die Abklärung der Vor­würfe sei damit umfan­gre­ich genug und durch ein eigens dafür vorge­se­henes Team durchge­führt wor­den, wobei die Beschw­erde­führerin zum Schluss gekom­men sei, dass sich der Ver­dacht gegen den Beschw­erdegeg­n­er erhärtet habe. Es könne daher nicht gesagt wer­den, dass die Beschw­erde­führerin die ordentliche Kündi­gung leicht­fer­tig oder ohne vernün­ftige Gründe aus­ge­sprochen habe. Weit­er hält das Bun­des­gericht klar fest (E. 4.5):

Die Vorin­stanz scheint aus den Augen zu ver­lieren, dass auch im Arbeit­srecht das Prinzip der Kündi­gungs­frei­heit gilt. Es bedarf grund­sät­zlich kein­er beson­deren Gründe, um zu kündi­gen. Ihre Gren­zen find­et die Kündi­gungs­frei­heit nur im Miss­brauchsver­bot. Die Vorin­stanz beurteilte die interne Unter­suchung der Beschw­erde­führerin mit einem über­zo­ge­nen Massstab, der über die straf­prozes­sualen Anforderun­gen hin­aus­ging. Sie ver­langte von der Beschw­erde­führerin teil­weise mehr als von ein­er Strafver­fol­gungs­be­hörde gefordert wer­den dürfte.

Dem­nach, so das Bun­des­gericht, habe die Vorin­stanz Bun­desrecht ver­let­zt, indem sie die Kündi­gung als miss­bräuch­lich beurteilt habe (E. 4.5).