6B_962/2023: Gericht muss Legalprognose umfassend prüfen

Im Urteil 6B_962/2023 vom 26. Feb­ru­ar 2024 prüfte das Bun­des­gericht eine Beschw­erde gegen den Wider­ruf des bed­ingten Vol­lzugs ein­er unbe­d­ingten Frei­heitsstrafe wegen Wider­hand­lun­gen gegen das Betäubungsmit­telge­setz. Der Beschw­erde­führer hat­te noch vor Abschluss des ursprünglichen Ver­fahrens erneut mit dem Auf­bau ein­er Indooran­lage zur Aufzucht von Mar­i­hua­na-Pflanzen begonnen.

Für die Gewährung des bed­ingten Strafvol­lzugs im Rah­men von Art. 42 Abs. 1 StGB genügt die Abwe­sen­heit der Befürch­tung, der Täter werde weit­ere Ver­brechen oder Verge­hen bege­hen. Vom Strafauf­schub darf deshalb grund­sät­zlich nur bei ungün­stiger Prog­nose abge­se­hen wer­den (E. 2.3.2).  Delin­quiert die verurteilte Per­son während der Probezeit und ist deshalb zu erwarten, dass sie weit­ere Straftat­en verüben wird, so wider­ruft das Gericht die bed­ingte Strafe (E. 2.3.3).

Ein während der Probezeit began­ge­nes Ver­brechen oder Verge­hen führt nicht zwin­gend zum Wider­ruf des bed­ingten Strafauf­schubs (Art. 46 Abs. 2 StGB). Dieser soll nach Art. 46 Abs. 1 StGB nur erfol­gen, wenn wegen der erneuten Straf­fäl­ligkeit eine eigentliche Schlecht­prog­nose beste­ht. Die mit der Gewährung des bed­ingten Vol­lzugs abgegebene Prog­nose über das zukün­ftige Ver­hal­ten des Täters ist unter Berück­sich­ti­gung der neuen Straftat frisch zu for­mulieren (E. 2.3.3).

Bei der Prü­fung des kün­fti­gen Wohlver­hal­tens bzw. der Bewährungsaus­sicht­en sind alle wesentlichen Umstände zu beacht­en. Zu berück­sichti­gen sind neben den Tatum­stän­den namentlich das Vor­leben und der Leu­mund sowie alle weit­eren Tat­sachen, die gültige Schlüsse auf den Charak­ter des Täters und die Aus­sicht­en sein­er Bewährung zulassen. Ein rel­e­vantes Prog­nosekri­teri­um ist ins­beson­dere die strafrechtliche Vor­be­las­tung, die Sozial­i­sa­tions­bi­ografie, das Arbeitsver­hal­ten oder das Beste­hen sozialer Bindun­gen. Dabei sind die per­sön­lichen Ver­hält­nisse bis zum Zeit­punkt des Entschei­ds miteinzubeziehen. Es ist unzuläs­sig, einzel­nen Umstän­den eine vor­rangige Bedeu­tung beizumessen und andere zu ver­nach­läs­si­gen oder über­haupt auss­er Acht zu lassen (E. 2.3.4).

Beste­hen ins­beson­dere auf­grund von Vorstrafen erhe­bliche Bedenken an der Legal­be­währung des Täters, ist zu prüfen, ob ein (teil­weis­er) Vol­lzug ein­er der Strafen eine genü­gende Warn­wirkung erzielt, was vor­liegend zutraf (E. 2.4.2). Als begrün­det erwies sich nach Bun­des­gericht auch die Rüge, dass die Vorin­stanz bei der Prü­fung des Wider­rufs keine aus­ge­wo­gene Würdi­gung aller für die Legal­prog­nose rel­e­van­ten Umstände vor­nahm, son­dern die Schlecht­prog­nose haupt­säch­lich auf die erneute ein­schlägige Delin­quenz während des hängi­gen Ver­fahrens stützte (E. 2.4.3).

Im Ergeb­nis über­schritt die Vorin­stanz damit vor­liegend ihr Ermessen und ver­let­zte Bun­desrecht, indem sie in jed­er Hin­sicht von ein­er neg­a­tiv­en Legal­prog­nose aus­ging, sowohl den bed­ingten als auch den teilbe­d­ingten Vol­lzug der neu aus­ge­fäll­ten Frei­heitsstrafe ver­weigerte und den für die frühere Geld­strafe gewährten bed­ingten Vol­lzug wider­rief. Dabei liess sie gemäss Bun­des­gericht ins­beson­dere mass­gebende Prog­nosekri­te­rien unberück­sichtigt und begrün­dete nicht hin­re­ichend, dass bzw. weshalb der Vol­lzug ein­er Strafe bzw. eines Teils ein­er Strafe nicht genü­gen würde, um den Beschw­erde­führer von weit­eren Straftat­en abzuhal­ten (E. 2.4.4). Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde somit gut (E. 3).