Im zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_312/2024 vom 5. Dezember 2024 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob dem Geschädigten ein Quotenvorrecht in Bezug auf Genugtuungsansprüche bei der Koordination mit einer Integritätsentschädigung im Fall einer Reduktion wegen Selbstverschuldens zusteht. Das Bundesgericht bejahte dies in Abänderung der in BGE 123 III 306 verankerten Rechtsprechung und erwog, dass auch die Genugtuungsansprüche grundsätzlich vom Quotenvorrecht erfasst werden, unabhängig vom Reduktionsgrund. Im konkreten Fall wären der seelische Schaden oder die erlittene Unbill durch das von der Vorinstanz – nebst der fehlenden Schutzvorrichtung – festgestellte Selbstverschulden nicht verringert worden, weshalb sich der Verunfallte auf das Quotenvorrecht grundsätzlich berufen durfte. Das Bundesgericht sprach dem Verunfallten eine Genugtuung von CHF 9’500 zu, da der Genugtuungsanspruch ohne Kürzung zufolge Selbstverschuldens (CHF 41’000) die Integritätsentschädigung (CHF 31’500) in diesem Umfang übertraf.
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:
A (Verunfallter; Beschwerdeführer) erlitt am 8. Oktober 2010 ein schweres Quetschtrauma an seiner linken Hand, die in eine Prägemaschine eingezogen und von der Einzugswalze erfasst worden war. Bei der Abschlussuntersuchung der SUVA wurde eine komplexe Funktionsstörung der linken Hand mit minimaler Beweglichkeit der Langfinger, deutlich eingeschränkter Funktion des Daumens und leichter Verminderung der Handgelenksbeweglichkeit sowie eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Symptomausweitung diagnostiziert. Der Verunfallte machte gegenüber seiner Arbeitgeberin, der B AG (Arbeitgeberin; Beschwerdegegnerin), einen Anspruch auf Genugtuung wegen Verletzung der Fürsorgepflichten (Art. 328 Abs. 2 OR) und zufolge Haftung für Werkmängel (Art. 58 OR) geltend.
Nach erfolgsloser Durchführung des Schlichtungsverfahrens erhob der Verunfallte am 11. Juli 2019 beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland eine Teilklage und verlangte von seiner Arbeitgeberin eine Genugtuung von CHF 30’000 nebst Zins unter dem Vorbehalt der Nachklage.
Am 24. März 2021 wies das Kreisgericht die Klage kostenfällig ab. Obwohl sämtliche haftungsbegründende Voraussetzungen gegeben waren, verneinte es eine Haftung der Arbeitgeberin, weil den Verunfallten ein grobes Selbstverschulden treffe, das den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der fehlenden Schutzvorrichtung an der Prägemaschine und der eingetretenen Schädigung unterbreche.
Die gegen diesen Entscheid erhobene Berufung wies das Kantonsgericht St. Gallen am 15. April 2024 grundsätzlich ab, korrigierte den Entscheid des Kreisgerichts aber insofern von Amtes wegen, als im erstinstanzlichen Verfahren keine Gerichtskosten zu erheben seien und dem Verunfallten der Kostenvorschuss zurückzuerstatten sei. Im Gegensatz zum Kreisgericht erachtete das Kantonsgericht das Selbstverschulden des Verunfallten zwar nicht als derart grob, dass der adäquate Kausalzusammenhang unterbrochen würde. Jedoch liege die ihm zustehende Genugtuung nach Kürzung wegen Selbstverschuldens (CHF 30’750; vor Kürzung liege die Genugtuung bei CHF 41’000) betraglich unter der Integritätsentschädigung (CHF 31’500), die er erhalten hatte, so dass ihm keine Forderung gegenüber der Arbeitgeberin verbleibe.
Gegen diesen Entscheid erhob A Beschwerde in Zivilsachen und beantragte dem Bundesgericht im Wesentlichen, das Urteil des Kantonsgerichts insoweit aufzuheben, als ihm die Genugtuung im Rahmen des Quotenvorrechts verweigert werde, und ihm eine Genugtuung von CHF 9’500 nebst Zins von 5 % seit dem 8. Oktober 2010 zuzusprechen. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob den Entscheid der Vorinstanz auf und sprach eine Genugtuung in der beantragten Höhe zu.
Rückgriffsrecht des Versicherungsträgers
Zunächst rief das Bundesgericht den im ATSG verankerten Grundsatz des Rückgriffsrechts des Versicherungsträgers in Erinnerung (E. 2):
Gemäss Art. 72 Abs. 1 ATSG tritt der Versicherungsträger grundsätzlich gegenüber einem Dritten, der für den Versicherungsfall haftet, im Zeitpunkt des Ereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen ein.
Die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen gehen nach Art. 73 ATSG indessen nur so weit auf den Versicherungsträger über, als dessen Leistungen zusammen mit dem vom Dritten für den gleichen Zeitraum geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen (Abs. 1). Hat jedoch der Versicherungsträger seine Leistungen im Sinne von Art. 21 Abs. 1, 2 oder 4 ATSG gekürzt, so gehen die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen so weit auf den Versicherungsträger über, als dessen ungekürzte Leistungen zusammen mit dem vom Dritten für den gleichen Zeitraum geschuldeten Ersatz den entsprechenden Schaden übersteigen würden (Abs. 2). Die Ansprüche, die nicht auf den Versicherungsträger übergehen, bleiben der versicherten Person und ihren Hinterlassenen gewahrt. Kann nur ein Teil des vom Dritten geschuldeten Ersatzes eingebracht werden, so sind daraus zuerst die Ansprüche der versicherten Person und ihrer Hinterlassenen zu befriedigen (Abs. 3).
Die Ansprüche gehen für Leistungen gleicher Art auf den Versicherungsträger über (Art. 74 Abs. 1 ATSG), wobei unter anderem die Integritätsentschädigung und die Genugtuung Leistungen gleicher Art darstellen (Art. 74 Abs. 2 lit. e ATSG).
Quotenvorrecht der geschädigten Person in Bezug auf Genugtuungsansprüche
Quotenvorrecht im Allgemeinen
Sodann setzte sich das Bundesgericht mit der Frage des Verteil- bzw. Quotenvorrechts der geschädigten Person in Bezug auf Genugtuungsansprüche auseinander:
Grundsätzlich steht der geschädigten Person im Verhältnis zum regressierenden Sozialversicherer nach Art. 73 Abs. 1 ATSG ein Verteil- bzw. Quotenvorrecht zu, was bedeutet, «dass die Versicherung nicht zum Nachteil des Geschädigten Regress nehmen darf. Ersetzt sie nur einen Teil des Schadens, so kann der Geschädigte den nicht gedeckten Teil vom Haftpflichtigen einfordern, und der Versicherung steht ein Regressanspruch nur im Rahmen des danach noch verbleibenden Haftungsanspruchs zu (…). Das Privileg des Quotenvorrechts soll die geschädigte Person vor ungedecktem Schaden bewahren, jedoch nicht zu ihrer Bereicherung führen (…)» (E. 2.1).
Quotenvorrecht und Genugtuungsansprüche insbesondere
Das Bundesgericht stellte in einem zweiten Schritt u.a. mit Verweis auf BGE 123 III 306 und BGer Urteil 4C.152/1997 vom 25. März 1997 fest, dass die Frage, ob und ggf. inwieweit dieses Quotenvorrecht auch in Bezug auf Genugtuungsansprüche bei der Koordination mit einer Integritätsentschädigung zum Tragen kommt, vor Inkrafttreten des ATSG in der Lehre umstritten war (E. 2.2).
In BGE 123 III 306 und BGer Urteil 4C.152/1997 erkannte das Bundesgericht im Sinne einer Kompromisslösung dem Geschädigten bei einer Reduktion seines Genugtuungsanspruchs kein volles Quotenvorrecht zu, sondern liess seine Ansprüche nur im um das Mass der haftpflichtrechtlichen Reduktionsquote gekürzten Teil der erbrachten Leistungen auf den Versicherungsträger übergehen. Von der ungekürzten Integritätsentschädigung war die haftpflichtrechtliche Reduktionsquote in Abzug zu bringen (E. 2.2.3).
In diesem Zusammenhang erwog das Bundesgericht, dass diese Lösung auf STARK (OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. 1, 5. Aufl. 1995, S. 442 § 8 N. 55) zurückging (E. 2.2.4):
- Danach kann das Quotenvorrecht nur angewendet werden, wenn ein Schadensbetrag feststeht, der dem Schadenersatzbetrag gegenübergestellt werden kann.
- Das sei bei der Genugtuung nicht der Fall; es könne nicht der Genugtuungsbetrag ohne Kürzungsgrund und, wenn ein solcher gegeben sei, dessen finanzielle Auswirkung zahlenmässig festgelegt werden. Es gelte nicht eine Kürzungsquote.
- Vielmehr sei die Genugtuung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren ex aequo et bono festzusetzen.
- Aus diesem Grund könne das Quotenvorrecht nicht direkt angewendet werden. Die eine Rechnungsgrösse, der volle Schaden, sei unbestimmt. Daher sei nur eine analoge Anwendung der Bestimmungen über das Quotenvorrecht denkbar, indem die betreffende Versicherungsleistung für den Regress nach der haftpflichtrechtlichen Reduktionsquote gekürzt werde.
Das Bundesgericht stellte in der Folge u.a. fest, dass diese Kompromisslösung in einem beachtlichen Teil der Lehre auf Kritik stiess, und dass die neuere Lehre keinen Anlass sieht, bei der Genugtuung von der Anwendung des Quotenvorrechts nach Art. 73 Abs. 1 ATSG abzusehen oder es zu beschränken. Zudem sprechen sich sogar ursprüngliche Gegner des Quotenvorrechts im Vergleich zu der Kompromisslösung nunmehr für die Anwendung des vollen Quotenvorrechts aus (E. 2.3). Selbst in seiner jüngsten Rechtsprechung erkannte das Bundesgericht bei einer Kürzung mit Blick auf einen krankhaften Vorzustand, es bestünden keine Gründe, den Geschädigten um das in Art. 73 Abs. 1 ATSG vorgesehene Quotenvorrecht zu bringen, und liess die Frage offen, ob die BGE 123 III 306 und dem BGer Urteil 4C.152/1997 zugrundeliegende, vermittelnde Lösung zumindest bei einer Kürzung der Genugtuung infolge Selbstverschuldens unter Geltung des ATSG noch ihre Daseinsberechtigung habe (BGer Urteil 4A_631/2017 vom 24. April 2018, E. 4.5) (E. 2.4).
Das Bundesgericht hielt fest, dass die Genugtuungsansprüche nach dem gesetzgeberischen Willen grundsätzlich auch vom Quotenvorrecht erfasst werden sollten, da der Gesetzgeber diesbezüglich in Art. 73 ATSG keine besondere Regelung getroffen hat, das Bundesgericht das Quotenvorrecht in seiner publizierten Rechtsprechung – wenn auch in abgeschwächter Form – bereits vor Inkrafttreten des ATSG anerkannt hatte und der Gesetzgeber an der bisherigen Ausgestaltung des Quotenvorrechts nichts verändern wollte (E. 2.6).
Quotenvorrecht und Genugtuungsansprüche bei einer Kürzung wegen Selbstverschuldens
Daraufhin setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob der Gesetzgeber bei der Kompromisslösung von BGE 123 III 306 hätte verharren wollen und ob BGE 123 III 306 auf Fälle des Selbstverschuldens einzuschränken ist (E. 2.7).
Das Bundesgericht erwog u.a., dass es nicht ersichtlich ist, inwiefern die von den Gegnern des Quotenvorrechts ins Feld geführten Unterschiede zwischen Genugtuung und Schadenersatz je nach Kürzungsgrund (Selbstverschulden oder krankhafter Vorzustand) eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen sollten (E. 2.7.2). Zudem bestünde bei einer Einschränkung von BGE 123 III 306 auf Fälle des Selbstverschuldens zwar kein Widerspruch mehr zum BGer Urteil 4A_631/2017, die BGE 123 III 306 zugrunde liegende Kompromisslösung würde aber eine Bedeutung erhalten, die ihr weder von ihrem Urheber noch vom Bundesgericht je zugemessen wurde (E. 2.7.3).
Das Bundesgericht kam daher zum Schluss, dass triftige Gründe bestehen, die gegen ein Festhalten an der Lösung gemäss BGE 123 III 306 sprechen und, dass dem Beschwerdeführer grundsätzlich das Quotenvorrecht zusteht (E. 2.8).
Anwendung im konkreten Fall
Das Bundesgericht erwog im konkreten Fall, dass dem angefochtenen Entscheid nicht zu entnehmen ist, dass der seelische Schaden oder die infolge der während der Arbeit gequetschten Hand erlittene Unbill dadurch verringert worden wären, dass sie nicht allein durch eine fehlende Schutzvorrichtung, sondern auch durch Selbstverschulden verursacht wurden – die Schmerzen und die Einschränkungen, die der Beschwerdeführer erlitten hat, werden dadurch nicht beeinflusst, weshalb sich der Beschwerdeführer auf das Quotenvorrecht berufen darf. Die Beschwerdegegnerin rügt allerdings die Genugtuungsberechnung der Vorinstanz. In der Tat kann der Beschwerdeführer aus dem Quotenvorrecht nur etwas ableiten, soweit sein Anspruch auf Genugtuung ohne Kürzung zufolge Selbstverschuldens die Integritätsentschädigung übertrifft (E. 3).
Vor Bundesgericht beanstandete die Beschwerdegegnerin, dass die Vorinstanz die Basisentschädigung um dreimal 10% erhöht hat (E. 3.1). Vor Bundesgericht monierte die Beschwerdegegnerin u.a., dass die Vorinstanz angenommen habe, die eingetretene Wesensveränderung nach Extrembelastung sowie die posttraumatische Belastungsstörung seien von der Beschwerdegegnerin «an sich auch… nicht in Abrede gestellt» worden, und dass sie – entgegen der Vorinstanz – die Erhöhungen der Basisentschädigung nicht anerkannt habe (E. 3.1.1).
Das Bundesgericht kam jedoch zum Schluss, dass die Beschwerdegegnerin nicht hinreichend aufgezeigt hatte, was sie an den von der Vorinstanz zitierten Stellen präzise ausgeführt haben will und weshalb es offensichtlich unhaltbar sein soll, daraus zu schliessen, sie habe die Behauptungen der Gegenpartei nicht in Abrede gestellt (E. 3.3.2):
«Dass keine ausdrückliche Anerkennung erfolgte, bedeutet nicht, dass die Beschwerdegegnerin die Vorbringen der Gegenpartei rechtsgenüglich bestritten hätte, zumal sie an den angegebenen Stellen zu gewissen Vorbringen der Beschwerde «keine Bemerkungen» macht und selbst auf Klagebeilagen verweist. Auch aus einem Zitat aus einem Gutachten sowie aus Verfügungen der SUVA oder der IV kann sich ergeben, dass klägerische Vorbringen nicht in Abrede gestellt werden. Die Beschwerdegegnerin müsste aufzeigen, wo und inwiefern sie die von der Vorinstanz angeführten Umstände klar in Abrede gestellt haben will. Die blosse Behauptung genügt den Begründungsanforderungen nicht.»
Im Zusammenhang mit der Kritik am festgestellten Sachverhalt rief das Bundesgericht in Erinnerung, dass das strenge Rügeprinzip und die Begründungsanforderungen auch für die Beschwerdeantwort gelten:
«Für eine Kritik am festgestellten Sachverhalt gilt das strenge Rügeprinzip von Art. 106 Abs. 2 BGG (…). Die Partei, welche die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz anfechten will, muss klar und substanziiert aufzeigen, inwiefern die genannten Voraussetzungen erfüllt sein sollen (…). Wenn sie den Sachverhalt ergänzen will, hat sie zudem mit präzisen Aktenhinweisen darzulegen, dass sie entsprechende rechtsrelevante Tatsachen und taugliche Beweismittel bereits bei den Vorinstanzen prozesskonform eingebracht hat (…). Genügt die Kritik diesen Anforderungen nicht, können Vorbringen mit Bezug auf einen Sachverhalt, der vom angefochtenen Entscheid abweicht, nicht berücksichtigt werden (…).» (E. 1.2.2.)
«Diese Begründungsanforderungen gelten auch für die Beschwerdeantwort, wenn darin Erwägungen der Vorinstanz beanstandet werden, die sich für die im kantonalen Verfahren obsiegende Partei ungünstig auswirken können (…).» (E. 1.3.)