Die Unternehmensstrafbarkeit nach Art. 102 StGB bildet eine Ausnahme vom herrschenden Prinzip der ausschliesslichen Strafbarkeit natürlicher Personen. Die Urteile des Bundesstrafgerichts in Sachen Falcon Private Bank (Urteil SK.2020.21 der Strafkammer vom 15. Dezember 2021; Urteil CA.2022.12 der Berufungskammer vom 30. Juni 2023) und Credit Suisse (Urteil SK.2020.62 der Strafkammer vom 27. Juni 2022; Urteil CA.2023.20 der Berufungskammer vom 26. November 2024) befassen sich mit der Strafbarkeit infolge Organisationsmängeln im Rahmen der Compliance einer Bank.
Wird in einem Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks ein Verbrechen oder Vergehen begangen und kann diese Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden, so wird das Verbrechen oder Vergehen dem Unternehmen zugerechnet. In diesem Fall wird das Unternehmen mit einer Busse bis zu Fr. 5 Mio. bestraft (Art. 102 Abs. 1 StGB).
Handelt es sich beim Delikt im Unternehmen um eine Straftat nach den Artikeln 260ter, 260quinquies, 305bis, 322ter, 322quinquies, 322septies Absatz 1 oder 322octies, so wird das Unternehmen unabhängig von der Strafbarkeit natürlicher Personen bestraft, wenn dem Unternehmen vorzuwerfen ist, dass es nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat, um eine solche Straftat zu verhindern (Art. 102 Abs. 2 StGB).
Bei Abs. 1 von Art. 102 StGB handelt es sich um eine subsidiäre Verantwortlichkeit des Unternehmens, bei Abs. 2 von Art. 102 StGB um eine originäre und kumulative Strafbarkeit des Unternehmens. Der Strafgrund für eine Sanktionierung nach Art. 102 Abs. 1 StGB liegt darin, dass die mangelhafte Organisation die Zurechnung einer Straftat zu einer natürlichen Person verhindert. Demgegenüber gründet die Strafbarkeit gemäss Art. 102 Abs. 2 StGB im Vorwurf, dass das Unternehmen seine Pflicht zur Verhinderung von Straftaten ungenügend wahrgenommen hat (CA.2022.12, E. 2.2).
Das Unternehmen ist nach Art. 102 Abs. 2 StGB auch strafbar, wenn der Individualtäter ermittelt und ihm die Tat zugerechnet werden kann. Es ist damit nicht notwendig, dass der Individualtäter ermittelt oder verurteilt ist. Dass eine natürliche Person im Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks eine Straftat begeht (die Anlasstat), bildet den äusseren Grund für die Strafbarkeit der Gesellschaft (SK.2020.21, E. 3.3.2). Der Anlasstäter muss demnach im Rahmen der Aufgaben gehandelt haben, die er gemäss ausdrücklichen oder konkludenten Verträgen oder gewohnheitsmässig für das Unternehmen erfüllt. Die blosse Zugehörigkeit des Anlasstäters zu einem Unternehmen genügt indessen nicht. Die Anlasstat muss einen funktionalen Zusammenhang zur Geschäftstätigkeit des Unternehmens aufweisen (CA.2022.12, E. 6). Diese Anlasstat ist objektive Strafbarkeitsbedingung. Dabei muss nachgewiesen sein, dass die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer der Katalogtaten erfüllt worden sind. Gelingt dieser Nachweis nicht, entfällt eine Strafbarkeit des Unternehmens a priori (SK.2020.21, E. 3.3.2).
Das Delikt ist als fahrlässiges Unterlassungsdelikt konzipiert, wobei dem Unternehmen die Funktion eines Überwachungsgaranten zukommt. Dass ein entsprechendes Delikt begangen wurde, genügt jedoch als Beweis dafür, dass das Unternehmen seinen Pflichten nicht nachgekommen ist, für sich allein noch nicht. Zusätzlich zum Nachweis einer Katalogtat wird für einen Schuldspruch nach Art. 102 Abs. 2 StGB vorausgesetzt, dass die Begehung des Delikts voraussehbar sowie vermeidbar war und ein Zurechnungszusammenhang zwischen Organisationsdefizit und Anlasstat bestand. D.h. es muss nachgewiesen sein, dass konkrete Organisationsmassnahmen erforderlich gewesen wären und tatsächlich nicht bestanden haben (SK.2020.21, E. 3.3.3). Es muss zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass die Zuwiderhandlung wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte, wenn das Unternehmen alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Massnahmen ergriffen hätte. Hat das Unternehmen diese Massnahmen tatsächlich getroffen, aber dennoch eine Rechtsverletzung darin begangen, muss es dafür nicht einstehen. Die Tat muss in diesem Sinne vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein (SK.2020.62, E. 5.1.3).
Die notwendigen organisatorischen Massnahmen gehen aus ausserstrafrechtlichen Regelwerken hervor. Die Nichteinhaltung dieser Normen indiziert einen Organisationsmangel. Art. 8 GwG verpflichtet Finanzintermediäre, die notwendigen organisatorischen Massnahmen zur Verhinderung von Geldwäscherei (und Terrorismusfinanzierung) zu ergreifen, namentlich genügende Ausbildung des Personals und Kontrollen (siehe dazu SK.2020.62, E. 5.1.3). Der Finanzintermediär erlässt in diesem Rahmen interne Weisungen zur Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung und gibt sie den betroffenen Personen in geeigneter Form bekannt. Sie sind durch den Verwaltungsrat oder das oberste Geschäftsführungsorgan zu verabschieden (Art. 26 GwV-FINMA; SK.2020.21, E. 3.3.4). In der Bankenbranche muss das Risiko einer Geschäftsbeziehung von den Personen gemanagt werden, die die Beziehung initiieren und überwachen (SK.2020.62, E. 5.1.5). Die Bank sorgt dazu für ein wirksames internes Kontrollsystem (Art. 12 Abs. 4 BankV). Das FINMA-RS 08/24 zur Überwachung und internen Kontrolle bei Banken macht schliesslich Vorgaben zur Corporate Governance, zur Überwachung der Geschäftstätigkeit und zur internen Kontrolle und deren Überwachung durch die zuständigen Stellen in Banken. Der Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance erteilt in erster Linie schweizerischen Publikumsgesellschaften Empfehlungen für die Ausgestaltung ihrer Corporate Governance (SK.2020.21, E. 3.3.4).