Vor sechs Monaten ist das revidierte Erbrecht in Kraft getreten. Es ist somit höchste Zeit, die grössere Flexibilität des neuen Erbrechts bei der Errichtung letztwilliger Verfügungen zu nutzen, sowie bereits bestehende Testamente und Erbverträge im Hinblick auf die wichtigsten Neuerungen zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Das neue Erbrecht gilt für alle Fälle, in denen der/die Erblasser/in am oder nach dem 1. Januar 2023 verstorben ist.
In Übereinstimmung mit dem Ziel der Erbrechtsreform, die Verfügungsfreiheit der Erblasser/innen zu vergrössern, soll auch die Unternehmensnachfolge erleichtert werden. Der Bundesrat hat die Botschaft zur Unternehmensnachfolge im Juni 2022 zuhanden des Parlaments verabschiedet. Der Ständerat ist am 15. Juni 2023 nicht auf die Vorlage eingetreten bzw. erachtet die vorgeschlagene Regelung vorwiegend als unnötig. Heute befasst sich die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats mit der Vorlage (siehe ferner zum aktuellen Stand: Link).
Die Erbrechtsreform hat per 1. Januar 2023 folgende wesentliche Neuerungen gebracht:
1. Reduktion der Pflichtteile der Nachkommen und Abschaffung der Pflichtteile der Eltern
Die Pflichtteile der Nachkommen wurde von ¾ auf ½ des gesetzlichen Erbanspruchs reduziert (Art. 471 ZGB; vgl. Art. 457 Abs. 2 ZGB). Der Pflichtteil der Eltern wurde im neuen Recht vollständig abgeschafft (zuvor betrug dieser ½ des gesetzlichen Erbanspruchs). Der Pflichtteil der Ehegatten beträgt nach wie vor ½ des gesetzlichen Erbanspruchs (Art. 471 ZGB; vgl. Art. 462 ZGB).
Wer einen Ehegatten und Nachkommen hinterlässt, kann gemäss neuem Recht über ½ des Nachlasses frei verfügen (der Pflichtteil des Ehegatten und der Nachkommen beträgt diesfalls je ¼ des Nachlasses). Nach altem Recht konnte man nur über 3/8 des Nachlasses frei verfügen (der Pflichtteil des Ehegatten betrug ¼ des Nachlasses, der Pflichtteil der Nachkommen 3/8).
Dabei ist zu beachten, dass das gesetzliche Erbrecht der Eltern nach wie vor besteht (Art. 458 ZGB). Hinterlässt eine Erblasserin beispielsweise einen Konkubinatspartner und keine Nachkommen, gelangt der Nachlass ohne abweichende testamentarische oder erbvertragliche Regelung vollumfänglich an die Eltern. Aufgrund der Abschaffung der Pflichtteile der Eltern können unverheiratete und kinderlose Personen aber vollumfänglich frei über ihren Nachlass verfügen.
2. Verlust des Pflichtteilsanspruchs im Scheidungsverfahren und im Verfahren betreffend Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft
Neu fällt der Pflichtteilsschutz von Ehegatten bereits im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens dahin. Verstirbt ein Ehegatte während des Scheidungsverfahrens, gelten die Pflichtteile, wie wenn er oder sie nicht verheiratet wäre (Art. 472 ZGB). Nach altem Recht fiel der Pflichtteil eines Ehegatten erst mit der Rechtskraft des Scheidungsurteils dahin.
Zu beachten ist, dass auch nach neuem Recht der gesetzliche Erbanspruch des Ehegatten bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils bestehen bleibt (Art. 462 ZGB; vgl. Art. 120 Abs. 3 Ziff. 2 ZGB). Soll dieser gesetzliche Erbanspruch ausgeschlossen werden, ist eine letztwillige Verfügung notwendig.
3. Vergrösserung des verfügbaren Teils bei Einräumung einer Nutzniessung zugunsten des überlebenden Ehegatten
Ein verheirateter Erblasser kann bei gemeinsamen Nachkommen den überlebenden Ehegatten neuerdings stärker begünstigen, indem er ihm (maximal) die Hälfte des Nachlasses zu Eigentum zuweist, während er dem Ehegatten die andere Hälfte zur Nutzniessung zuweist. Dies ist nur möglich zulasten gemeinsamer Nachkommen, deren Erbteil diesfalls vollumfänglich mit der Nutzniessung belastet wird (Art. 473 ZGB). Nach altem Recht konnte der Erblasser dem überlebenden Ehegatten bloss ¼ des Nachlasses zu Eigentum zuweisen und ihn im Umfang von ¾ mit einer Nutzniessung zulasten der gemeinsamen Nachkommen begünstigen.
Zu beachten ist, dass der überlebende Ehegatte seine Erbenstellung und somit auch den Pflichtteilsanspruch verliert, soweit er betreffend die verfügbare Quote nicht auch als Erbe einsetzt wird – im Regelfall erfolgt daher eine Erbeinsetzung betreffend die verfügbare Quote (Art. 473 Abs. 2 ZGB). Der überlebende Ehegatte, welchem einzig ein Nutzniessungsvermächtnis erhält, kann dieses ausschlagen und den Pflichtteil mittels Herabsetzungsklage geltend machen.
4. Einführung eines Schenkungsverbots als Grundsatz bei Erbverträgen
Neu gilt der Grundsatz, dass bei Abschluss eines Erbvertrags nicht nur spätere Verfügungen von Todes wegen, sondern auch sämtliche Schenkungen nach dem Tod der Erblasserin anfechtbar sind, sofern sie mit den erbvertraglichen Verpflichtungen nicht vereinbar und nicht ausdrücklich im Erbvertrag vorbehalten worden sind (Art. 494 Abs. 3 ZGB). Eine Ausnahme gilt für übliche Gelegenheitsgeschenke.
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum alten Recht waren Schenkungen und Verfügungen von Todes wegen nur dann anfechtbar, wenn der Erbvertrag ein Schenkungsverbot vorsah oder eine Schädigungsabsicht des Erblassers nachgewiesen werden konnte (wobei die Beweishürde hoch lag und in der Lehre kritisiert wurde).
Vor diesem Hintergrund sind Erbverträge sorgfältig zu redigieren: Für die spätere Ausrichtung von Schenkungen und Errichtung von Verfügungen von Todes wegen ist ein expliziter Vorbehalt im Erbvertrag notwendig. Es wird empfohlen, den Vorbehalt möglichst konkret zu formulieren, z.B. in Form eines Verzichts der erbvertraglich Begünstigten auf die Anfechtung von Schenkungen bis zu einem bestimmten Betrag oder die Einräumung eines Freibetrags oder Freiquoten (siehe Grundmann, in: Abt/Weibel (Hrsg.), PraxKomm Erbrecht, 5. Aufl. 2023, Art. 494 N 17d). Zu beachten ist, dass Art. 494 Abs. 3 ZGB im Gegensatz zur Geltendmachung der Herabsetzung keine zeitliche Beschränkung von 5 Jahren vorsieht (vgl. Art. 527 Ziff. 3. ZGB).
5. Herabsetzungsreihenfolge
Das neue Recht klärt die bis anhin umstrittene Frage, ob und an welcher Stelle der Intestaterwerb herabsetzbar ist. Die Intestaterbfolge bezeichnet die gesetzliche Erbfolge, welche zur Anwendung gelangt, wenn die Erblasserin letztwillig nicht verfügt hat. Das neue Recht erwähnt den Intestaterwerb neu explizit und sieht folgende Herabsetzungsreihenfolge vor (Art. 532 ZGB): (1) Erwerbungen gemäss der gesetzlichen Erbfolge bzw. Intestaterwerb; (2) Zuwendungen von Todes wegen; (3) Zuwendungen unter Lebenden.
Das neue Recht stellt überdies klar, dass Zuwendungen aus Ehevertrag als Zuwendungen unter Lebenden zu qualifizieren bzw. als solche herabsetzbar sind und klärt damit eine bis anhin in der Lehre umstrittene Frage (Art. 532 Abs. 2 ZGB). In der Lehre wird aber bereits diskutiert bzw. ist umstritten, inwieweit der Intestaterwerb konkret herabzusetzen ist (vgl. hierzu Lehrmeinungen von Jungo und Steinauer einerseits sowie Eitel und Eggel andererseits; siehe zum Lehrstreit mit Beispielen Zeiter, Die Herabsetzung des Intestaterwerbs, in: Schmid et al. (Hrsg.), Spuren im Erbrecht – Festschrift für Paul Eitel, 2022, S. 655 ff.).
6. Klarstellung betreffend die Ansprüche von Begünstigten aus der gebundenen Selbstvorsorge (Säule 3a)
Das neue Recht stellt klar, dass (neben Versicherungsansprüchen) auch die Guthaben von Begünstigten aus der gebundenen Selbstvorsorge (Säule 3a) nicht in den Nachlass fallen. Die Begünstigten haben nach dem Tod des Erblassers einen eigenen, direkten Anspruch gegenüber dem Versicherer, wobei sich die Geltendmachung dieser Ansprüche nicht nach Erb‑, sondern nach Vorsorgerecht richtet (Art. 82 Abs. 4 BVG). Die Guthaben werden allerdings zum Rückkaufswert zur Pflichtteilsberechnungsmasse hinzugerechnet und unterliegen entsprechend auch der Herabsetzung (Art. 476, Art. 529 ZGB).
7. Klarstellung betreffend die Berechnung von Pflichtteilen bei der überhälftigen Vorschlagszuweisung
Das neue Recht stellt klar, dass die ehevertragliche überhälftige Vorschlagszuweisung an den überlebenden Ehegatten für die Berechnung der Pflichtteile des überlebenden Ehegatten sowie der gemeinsamen Kinder nicht hinzugerechnet wird (Art. 216 Abs. 2 ZGB). Dies bedeutet, dass die Pflichtteile derselben basierend auf dem reinen Nachlass berechnet werden, wie er nach Vornahme der ehevertraglich geregelten überhälftigen Vorschlagszuweisung vorliegt.
Bei nicht gemeinsamen Kindern wird (wie bereits nach altem Recht) die überhälftige Vorschlagszuweisung bei der Berechnung der Pflichtteile hinzugerechnet (d.h. die Pflichtteile werden basierend auf dem reinen Nachlass berechnet, wie er bei Vornahme der gesetzlichen güterrechtlichen Auseinandersetzung nach Art. 215 ZGB vorliegen würde; siehe zum Ganzen Jungo, Die ehevertraglich begünstigte Ehegattin zwischen Pflichtteilsansprüchen gemeinsamer und nichtgemeinsamer Kinder, in Schmid et al. (Hrsg.), Spuren im Erbrecht – Festschrift für Paul Eitel, 2022, S. 371 ff.).