5A_668/2021: Überschussanteil des Kindes unverheirateter Eltern — revisited (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_668/2021 vom 19. Juli 2023 stellt das Bun­des­gericht klar, dass bei der Unter­halts­fest­set­zung für Kinder unver­heirateter Eltern, die unter Alleinob­hut ste­hen, der Über­schuss  im Ver­hält­nis 2:1 auf den Unter­haltss­chuld­ner und das unter­halts­berechtigte Kind aufzuteilen ist. Gegebe­nen­falls ist der Über­schus­san­teil des Kindes betragsmäs­sig zu begren­zen, um zu ver­hin­dern, dass mit dem Über­schuss indi­rekt der betreuende Eltern­teil quer­sub­ven­tion­iert wird.

Zusam­men­fas­sung

Im vor­liegen­den Fall befasste sich das Bun­des­gericht erst­mals unter voller Kog­ni­tion mit der Frage, wie sich der Über­schus­san­teil des Kindes unver­heirateter Eltern berech­net. Die Vorin­stanz hat­te den unter­haltss­chulden­den Vater als “grossen Kopf” (dop­pel­ter Über­schus­san­teil) und den unter­halts­berechtigten Sohn als “kleinen Kopf” (ein­fach­er Über­schus­san­teil) betra­chtet und entsprechend 2/3 des Über­schuss­es dem Vater und 1/3 dem Sohn zugewiesen. Der Vater machte in sein­er Beschw­erde ans Bun­des­gericht gel­tend, richtiger­weise hätte auch die Mut­ter als “gross­er Kopf” gezählt wer­den müssen, weshalb dem Sohn bloss 20 % des Über­schuss­es zuste­he. Andern­falls wür­den Kinder unver­heirateter Eltern gegenüber Kindern ver­heirateter Eltern finanziell bessergestellt, was dem Gle­ich­stel­lungsan­liegen des Geset­zge­bers im Zusam­men­hang mit der Ein­führung des Betreu­ung­sun­ter­halts widerspreche.

Das Bun­des­gericht erwog zusam­menge­fasst, es habe bish­er noch nicht entsch­ieden, ob bei Kindern unver­heirateter Eltern bei der Über­schussverteilung für den betreuen­den (statt zahlen­den) Eltern­teil eben­falls ein «gross­er Kopf» zu berück­sichti­gen sei. Ver­schiedene Autoren wür­den die Mei­n­ung vertreten, dass auch bei unver­heirateten Paaren für die Über­schussverteilung von zwei «grossen Köpfen» aus­ge­gan­gen wer­den müsse, da anson­sten das Kind des unver­heirateten Paars gegenüber einem aus ehe­lichem Ver­hält­nis stam­menden Kind bevorzugt würde.

Anlass für die Ein­führung des Betreu­ung­sun­ter­halts sei die Gle­ich­be­hand­lung ehe­lich­er und nichte­he­lich­er Kinder bei der Betreu­ung gewe­sen. Von ein­er finanziellen Gle­ich­stel­lung von Kindern ver­heirateter und unver­heirateter Eltern sei in der Botschaft zum Betreu­ung­sun­ter­halt nir­gends direkt die Rede. Der Gle­ich­stel­lungs­gedanke entspreche indes einem all­ge­meinen Gebot und liege indi­rekt auch dem geset­zge­berischen Konzept zum Betreu­ung­sun­ter­halt zugrunde. Die anzus­trebende Gle­ich­be­hand­lung von Kindern ver­heirateter und unver­heirateter Eltern sei jedoch vor dem Hin­ter­grund zu lesen, dass Kinder unver­heirateter Eltern unter sich wie auch Kinder ver­heirateter Eltern unter sich ökonomisch höchst ungle­ich gebet­tet sein kön­nen. Es lasse sich somit nicht in gen­er­al­isieren­der Weise sagen, wie Kinder unver­heirateter Eltern konkret mit solchen ver­heirateter oder ver­heiratet gewe­sen­er Eltern gle­ichgestellt wer­den könnten.

Indes sei beim Über­schus­san­teil eines Kindes unver­heirateter Eltern – unab­hängig davon, wie der Anteil bes­timmt werde – sicherzustellen, dass nicht der betreuende Eltern­teil daraus quer­sub­ven­tion­iert werde. Dieser habe keinen eige­nen Unter­halt­sanspruch gegenüber dem anderen Eltern­teil und ein allfäl­liger Betreu­ung­sun­ter­halt sei max­i­mal auf das fam­i­lien­rechtliche Exis­tenzmin­i­mum begren­zt, enthalte also keinen Über­schus­san­teil. Die Recht­sprechung, wonach der Über­schus­san­teil eines Kindes bei über­durch­schnit­tlichen Ver­hält­nis­sen nicht unbe­gren­zt ansteigen dürfe, erhalte mithin bei der Fest­set­zung des Unter­haltes für Kinder unver­heirateter Eltern ein zusät­zlich­es Motiv: Nicht nur erzieherische und konkrete Bedarf­s­gründe kön­nten hier unter­halts­be­gren­zend wirken, son­dern es sei auch sicherzustellen, dass mit dem Über­schus­san­teil des Kindes nicht auch der unver­heiratete Eltern­teil mit­fi­nanziert werde.

Betr­e­f­fend dem Verteilschlüs­sel für den Über­schuss sei zu beacht­en, dass bei Kindern unver­heirateter Eltern, die unter Alleinob­hut ste­hen, die Unter­halt­srech­nung zwangsläu­fig einzig zwis­chen dem unter­halt­spflichti­gen Eltern­teil und dem Kind stat­tfinde. Die finanziellen Ver­hält­nisse des betreuen­den Eltern­teils seien höch­stens indi­rekt rel­e­vant, um den für die Berech­nung des Betreu­ung­sun­ter­halts rel­e­van­ten Fehlbe­trag zum fam­i­lien­rechtlichen Exis­tenzmin­i­mum festzustellen. Im vor­liegen­den Fall gehe es um unver­heiratete Eltern und die Mut­ter erbringe ihren Kindesun­ter­halt bere­its voll­ständig durch die mit dem Gel­dun­ter­halt gle­ich­w­er­tige Betreu­ungsleis­tung. Bleibe es fol­glich bei ein­er Rech­nung zwis­chen Vater und Kind könne für die ausser­halb dieser Rech­nung ste­hende Mut­ter nicht virtuell ein Über­schus­san­teil aus­geschieden wer­den. Ein solch­er könne nur Per­so­n­en zukom­men, welche direkt in die Unter­halt­srech­nung einge­bun­den seien. Wenn schon sei nicht die Mut­ter am Über­schuss des Vaters virtuell zu beteili­gen, son­dern es müsste wie bei ver­heirateten Eltern virtuell eine Gesamtrech­nung durchge­führt und der sich daraus ergebende Über­schuss geteilt wer­den. Indes sei dies­falls nicht klar, mit welch­er Kon­stel­la­tion bei ver­heirateten oder ver­heiratet gewe­se­nen Eltern genau zu ver­gle­ichen wäre. Sodann wäre in prozes­sualer Hin­sicht nicht klar, inwiefern der betreuende Eltern­teil bei fehlen­der Koop­er­a­tion in das Ver­fahren einge­bun­den wer­den kön­nte. Schliesslich seien Verz­er­run­gen möglich, wenn sich der Gesamtüber­schuss (wie vor­liegend) primär aus der Leis­tungskraft des unter­halt­spflichti­gen Eltern­teils ergebe. Dies­falls verbliebe der virtuell auf den betreuen­den Eltern­teil ent­fal­l­ende Über­schus­san­teil realiter beim Unter­halt­spflichti­gen, wom­it diesem die Anteile von zwei grossen Köpfen zukämen.

Ins­ge­samt scheine es nicht ange­bracht, bei der Über­schussverteilung virtuell einen «grossen Kopf» für einen Eltern­teil einzuset­zen, welch­er keinen eige­nen Unter­halt­sanspruch habe und nicht berechtigt sei, am Über­schuss des anderen Eltern­teils reell zu par­tizip­ieren. Vielmehr sei die Über­schussverteilung auf jene Per­so­n­en zu begren­zen, die konkret am Unter­haltsver­hält­nis beteiligt seien. 

Dies bedeute in wirtschaftlich­er Hin­sicht keine unstatthafte «Bevorzu­gung» oder «Besser­stel­lung» des Kindes unver­heirateter Eltern: Bei ein­er virtuellen Zuweisung von Über­schus­san­teilen an den unver­heirateten anderen Eltern­teil würde nicht das Kind, son­dern der Unter­halt­spflichtige bessergestellt. Dem Kri­teri­um der Leis­tungs­fähigkeit wäre nicht angemessen Rech­nung getra­gen, wenn virtuell ein Über­schus­san­teil für einen nicht unter­halts­berechti­gen Eltern­teil aus­geschieden würde, dieser aber reell beim Unter­halt­spflichti­gen verbleibe. Sodann würde ein so berech­neter Kindesun­ter­halt hin­ter dem Anspruch des Kindes auf gebühren­den Unter­halt zurück­bleiben, wenn nicht die tat­säch­liche Leis­tungskraft des Unter­halt­spflichti­gen mass­ge­blich wäre. Damit sei die Beschw­erde abzuweisen.

Kom­men­tar

Die vom Bun­des­gericht gewählte Meth­ode für die Über­schussverteilung bei Kindern unver­heirateter Eltern ist zu begrüssen und wurde in diesem Blog bere­its in einem früheren Beitrag propagiert.

Ent­ge­gen der bish­er herrschen­den Lehrmei­n­ung führt die vom Bun­des­gericht gewählte Meth­ode nicht zu ein­er ungerecht­fer­tigten Ungle­ich­be­hand­lung von Kindern ver­heirateter und unver­heirateter Eltern. Ein Ver­stoss gegen das Gle­ich­be­hand­lungs­ge­bot liegt nur dann vor, wenn Per­so­n­en in ver­gle­ich­baren Sit­u­a­tio­nen ohne sach­lichen Grund ungle­ich behan­delt wer­den (Keiner/Kälin/Wyttenbach, Grun­drechte, 3. Aufl. 2018, § 35 N 14). Diese Voraus­set­zun­gen sind hier nicht erfüllt. Bei unver­heirateten Eltern wird bei der Über­schussverteilung anders als bei ver­heirateten Eltern nicht der Gesamtüber­schuss, son­dern bloss der Über­schuss des unter­halt­spflichti­gen Eltern­teils berück­sichtigt. Zudem ver­fügt der unver­heiratete Unter­haltss­chuld­ner wegen der fehlen­den Unter­halt­spflicht gegenüber dem betreuen­den Eltern­teil regelmäs­sig über eine höhere Leis­tungs­fähigkeit als ein ver­heirateter oder ver­heiratet gewe­sen­er Unter­haltss­chuld­ner. Diese Unter­schiede recht­fer­ti­gen es, den Über­schus­san­teil von Kindern unver­heirateter Eltern anders zu berech­nen als bei Kindern ver­heirateter Eltern und den Über­schuss im Ver­hält­nis 2:1 auf die Berechtigten zu verteilen.

Etwas über­raschend ist einzig, dass dem Bun­des­gericht ent­gan­gen ist, dass es sich in diesem Jahr bere­its ein­mal mit der im vor­liegen­den Urteil behan­del­ten Frage befasste (siehe Beitrag zum Urteil 5A_597/2022 vom 10. April 2023). So schreibt das Bun­des­gericht, es habe sich zur Frage der Über­schussverteilung bei Kindern unver­heirateter Eltern “soweit ersichtlich noch nie spez­i­fisch geäussert”. Dies trifft nicht zu. Gle­ich­wohl ist es gerecht­fer­tigt, das vor­liegende Urteil als Leiturteil zu pub­lizieren, nach­dem das Bun­des­gericht die Frage im früheren Entscheid lediglich unter Willkürkog­ni­tion zu beurteilen hatte.