Das BGer hat nun die Begründung des bereits Ende Juli 2011 gefällten Urteils i.S. Übergabe von UBS-Kundendaten durch die FINMA an die USA veröffentlicht (vgl. die damalige Pressemitteilung des BGer). Kurz: Die FINMA hatte zwar keine gesetzliche Grundlage, um die Daten an die USA herauszugeben, konnte aber — sozusagen Hand in Hand mit dem Bundesrat — die polizeiliche Generalklausel anrufen.
Zur Rechtfertigung ihres Eingriffs in das Bankkundengeheimnis und in das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre hatte sich die FINMA zunächst auf ihr Recht berufen, bankenrechtliche Schutzmassnahmen zu treffen (BankG 25 f.). Diese Bestimmungen genügen jedoch mangels hinreichender Bestimmtheit und Voraussehbarkeit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzliche Grundlage nicht:
Art. 26 BankG gibt seinem Wortlaut nach der FINMA keinerlei Befugnis, im Rahmen solcher Massnahmen das Bankkundengeheimnis zu durchbrechen […]. Die explizit genannten Massnahmen richten sich in erster Linie an die Beaufsichtigten, d.h. die Banken selber […].
Zwar ist die Aufzählung der möglichen Massnahmen in Art. 26 BankG nicht abschliessend und kann die FINMA gestützt darauf auch andere Anordnungen im Interesse der Gläubiger und des Finanzplatzes zum Schutz der Banken vor nicht erfüllbaren Rückzügen (“bank run”) treffen, doch müssen diese den selben Zweck verfolgen wie die in Art. 26 BankG genannten, nämlich die Bank zu retten bzw. zu sanieren […]. Die Schutzmassnahmen nach Art. 25 f. BankG sollen die Bank in die Lage versetzen, weiterhin ihre Tätigkeit auszuüben, sei es mit verbesserten Strukturen, sei es dadurch, dass sie von ihren Gläubigern nicht allzu sehr bedrängt wird […]. Nicht alles, was zur Abwendung der Insolvenzgefahr einer Bank nützlich und allenfalls sogar verhältnismässig erscheint, kann von ihr als aufsichtsrechtliche Schutzmassnahme verfügt werden. Die Anordnungen müssen qualitativ gleicher Natur sein wie die vom Gesetzgeber in Art. 26 BankG genannten […].
Auch FINMAG 31 war für die Handlungen der FINMA keine gesetzliche Grundlage:
Die umstrittene Datenherausgabe konnte sich unter diesen Umständen auch nicht auf Art. 31 FINMAG stützen, wonach die FINMA für die Wiederherstellung des ordnungsgemässen Zustandes sorgt, falls ein Beaufsichtigter ein Finanzmarktgesetz verletzt oder sonstige Missstände bestehen: Auch in diesem Rahmen muss die FINMA — trotz des ihr eingeräumten technischen Ermessens — gesetzeskonform handeln […]. Sie kann keine geschützten Kundendaten in Umgehung der entsprechenden Amts- oder Rechtshilfeverfahren ins Ausland liefern. Würden die entsprechenden aufsichtsrechtlichen Befugnisse anders und im Sinne der Ausführungen der FINMA verstanden, beeinträchtigte dies das Gesetzmässigkeitsprinzip dauerhaft, da sie jederzeit im Rahmen des ordentlichen Rechts ausserordentliche, nicht voraussehbare und ihre Aufsichtsbefugnisse nach den einschlägigen Gesetzen sprengende Massnahmen anordnen könnte, was rechtsstaatlich unzulässig ist.
Dafür darf die FINMA den Grundsatz der polizeilichen Generalklausel (PGK) anrufen, obwohl diese nur für den Bundesrat gilt:
Zwar wäre die FINMA als Verwaltungsbehörde mit Blick auf die mit der Durchbrechung des Bankkundengeheimnisses verbundenen Auswirkungen nicht befugt gewesen, gestützt auf die polizeiliche Generalklausel in ihrem Fachbereich die Dokumentenherausgabe in eigener Verantwortung zu verfügen; sie konnte sich im konkreten Fall aber auf die polizeiliche Generalklausel berufen, weil sie den Bundesrat laufend über die Situation informiert hatte und inhaltlich letztlich gemeinsam mit ihm handelte. […] Die FINMA hat mit Wissen bzw. auf Anweisung und Drängen des Bundesrats hin verfügt, wobei dieser die konkret vorgesehene Massnahme — die umstrittene Datenherausgabe — gebilligt hatte […].
Die Voraussetzungen der PGK erachtete das BGer als erfüllt:
Der Bundesrat und die FINMA sahen sich vorliegend mit der amerikanischen Drohung, gegen die UBS Anklage zu erheben, einer Gefahr gegenüber, welche wegen der Systemrelevanz der Bank geeignet erschien, den nationalen und internationalen Finanzmarkt zu erschüttern. […] Es ging bei der umstrittenen Massnahme mit der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit darum, ein für dieses fundamentales Rechtsgut zu erhalten. In Ausnahmesituationen — wie hier — kann auch die ökonomische Stabilität und der Schutz des Finanzmarkts ein entsprechend schützenswertes polizeiliches Gut darstellen, da beide klassische Polizeigüter wie das Eigentum oder Treu und Glauben im Geschäftsverkehr umfassen, welche bei einem Zusammenbruch des Finanzsystems massiv beeinträchtigt würden […]. Da die Gefahrenabwehr und die Funktionsfähigkeit der Märkte bzw. das wirtschaftliche Gleichgewicht eng zusammenhängen, ging es beim finanzmarktrechtlichen Funktionsschutz, wie er von der FINMA mit Zustimmung des Bundesrats wegen der Systemrelevanz der UBS hier wahrgenommen wurde, nicht um eine wirtschaftspolitische, sondern in erster Linie um eine wirtschaftspolizeiliche Massnahme. Es kann darin eine gestützt auf die bestehenden, traditionell anerkannten Polizeigüter (in Abgrenzung zu diesen) erweiterte Polizeiaufgabe gesehen […].
Die drohende Gefahr war mit Blick auf die möglichen Konsequenzen für das Finanzsystem auch schwer: Die UBS ist für die Schweizer Wirtschaft von systemischer Bedeutung […]. Auf dem Spiel stand bei einem allfälligen Untergang der UBS mitunter das Risiko einer schweren volkswirtschaftlichen Krise.
[…]
Richtig ist, dass die Bankenkommission (bzw. die Finanzmarktaufsicht) — wie das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt hat — die Drohungen der U.S.-Behörden, Anklage gegen die UBS zu erheben, bereits “einige Zeit vor dem 18. Februar 2009” kannte und die EBK sich aufgrund dieser delikaten Situation schon im Jahr 2008 im Austausch mit dem EFD befand. Dies schloss jedoch eine unmittelbare und sofort zu begegnende Gefahr bei Erlass der umstrittenen Verfügung nicht aus: […] Die entsprechende Gefahr war damit zwar latent voraussehbar, wurde in ihrer Eskalation mit der Anklageerhebung gegen Raoul Weil anfangs 2009 indessen zusehends konkreter und dringender.[…] Die Tatsache, dass die FINMA vorausschauend verschiedene Optionen geprüft und dem Bundesrat unterbreitet hatte, schloss nicht aus, dass sie am 18. Februar 2009 mit dessen impliziter Zustimmung die polizeiliche Generalklausel anrufen konnte. Diese gilt nicht nur, wenn sich die Behörden durch eine Situation überraschen lassen, sondern auch wenn sie — wie hier — zuvor (erfolglos) alles versuchen, die Gefahr durch andere (gesetzeskonforme) Massnahmen im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips abzuwenden.
Das BGer erachtet die Massnahme schliesslich auch als verhältnismässig:
Die von der FINMA angeordnete Herausgabe der Datensätze war geeignet und erforderlich, die mit einer Illiquidität der UBS dem Wirtschaftsstandort Schweiz drohende schwere Gefahr abzuwenden, und verstiess, nachdem die anderen Optionen (Amtshilfe, diplomatische Verhandlungen usw.) ohne Erfolg geblieben waren, nicht gegen das Übermassverbot. […] Dass die UBS die Notlage letztlich mit ihrem widerrechtlichen Geschäftsgebaren geschaffen hat, hinderte die FINMA und den Bundesrat nicht daran, die Situation im überwiegenden Interesse der Schweiz in einem ganz spezifischen Umfeld (vorübergehend) aufsichtsrechtlich zu bereinigen, zumal die betroffenen Kunden ihrerseits nicht als an den entsprechenden Machenschaften völlig unbeteiligte Dritte gelten konnten. Dass es denkbar gewesen wäre, dass UBS-Angestellte, die einem amerikanischen Editionsbefehl Folge geleistet hätten, aufgrund der Notstandsregeln allenfalls straflos geblieben wären, stand einer Intervention der FINMA in Koordination mit dem Bundesrat nicht entgegen, da auf das staatliche Handeln in einer Notsituation nicht verzichtet werden muss bzw. darf, nur weil die Situation auch durch ein — nach schweizerischem Recht fragwürdiges — Handeln eines Privaten bereinigt werden könnte […].
Insgesamt kam das BGer also zu folgendem Ergebnis:
Mit gewissen Stimmen in der Doktrin ist davon auszugehen, dass der Fall notrechtlichen Charakter hat und rechtsstaatlich eine Ausnahme bleiben muss, “begründet durch den Sonderfall der existenziellen Bedrohung einer für schweizerische Massstäbe systemrelevanten Bank” […]
Schliesslich stellt das BGer fest, dass der Eugen Haltiner in den Ausstand hätte treten müssen:
Eugen Haltiner als ehemaliger Präsident der EBK und der FINMA war zum Zeitpunkt, als das Qualified-Intermediary-Abkommen (QI) eingeführt wurde, Mitglied des Executive Boards der UBS Schweiz, welches über die Umsetzungsprobleme bei diesem und allfällige Lösungsansätze informiert und an gewissen von den amerikanischen Behörden beanstandeten Auslegungen bzw. Entscheiden beteiligt war. Diese Implikation war objektiv geeignet, bei der hier beanstandeten Herausgabeverfügung den Anschein einer Befangenheit zu begründen. […] Als ehemaliges Kadermitglied hätte er an den entsprechenden EBK- und FINMA-Geschäften nicht mitwirken dürfen, zumal sein Name 2008 auf einer Liste von Personen aufgetaucht war, deren Verwicklung in das grenzüberschreitende Geschäft der UBS vermutet wurde.
Jedoch:
[…] Der entsprechende Entscheid der FINMA kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Es besteht somit kein aktuelles praktisches Interesse mehr daran, diesen aufzuheben […]