Im Urteil 5A_1025/2020 vom 30.8.2021 äusserte sich das Bundesgericht zur umstrittenen Frage, ob vor Einleitung einer selbständigen Kinderunterhaltsklage vorsorgliche Massnahmen beantragt werden können.
Gemäss den bis zum Inkrafttreten der ZPO massgeblichen aArt. 281 Abs. 1 und 2 ZGB waren vorsorgliche Massnahmen erst zulässig, nachdem die selbständige Unterhaltsklage rechtshängig war: “Ist die Klage eingereicht, so trifft das Gericht auf Begehren des Klägers für die Dauer des Prozesses die nötigen vorsorglichen Massregeln [Abs. 1]. Steht das Kindesverhältnis fest, so kann der Beklagte verpflichtet werden, angemessene Beiträge zu hinterlegen oder vorläufig zu zahlen [Abs. 2].” Der Wortlaut des heute geltenden Art. 303 Abs. 1 ZPO erwähnt das Erfordernis der Rechtshängigkeit dagegen nicht mehr: “Steht das Kindesverhältnis fest, so kann der Beklagte verpflichtet werden, angemessene Beiträge an den Unterhalt des Kindes zu hinterlegen oder vorläufig zu zahlen.” In der Lehre ist deshalb umstritten, ob vorsorgliche Massnahme weiterhin erst zulässig sind, nachdem die selbständige Unterhaltsklage rechtshängig ist.
Das Obergericht Aargau bejahte dies. Es erwog zusammengefasst, aus der Botschaft des Bundesrats zur ZPO lasse sich ableiten, dass der Gesetzgeber in Art. 303 Abs. 1 ZPO das bisherige Recht habe übernehmen wollen. Für das Erfordernis der Rechtshängigkeit spreche auch die Kapitelüberschrift von Art. 303 f. ZPO (“Unterhalts- und Vaterschaftsklage”) sowie der Kontext zur Eingangsformulierung im zweiten Absatz (“Ist die Unterhaltsklage zusammen mit der Vaterschaftsklage eingereicht worden […]”). Es sei kein sachlicher Grund ersichtlich, selbständige Unterhaltsklagen und Unterhaltsklagen verbunden mit einer Vaterschaftsklage unterschiedlich zu behandeln. Es sei auch kein Bedürfnis erkennbar, vor Rechtshängigkeit der Unterhaltsklage vorsorglichen Rechtsschutz zu erlangen, könne man mit der selbständigen Unterhaltsklage doch Unterhalt nicht nur für die Zukunft, sondern auch rückwirkend für ein Jahr vor Klageanhebung verlangt (E. 3.2).
Das Bundesgericht erwog, die Beschwerdeführerin weise zu Recht darauf hin, aus der Botschaft lasse sich kein gesetzgeberischer Wille bezüglich Art. 303 Abs. 1 ZPO ableiten, da erst das Parlament diesen Artikel in die ZPO eingefügt habe. Auch sei das Argument nicht verfehlt, es gebe sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung je nachdem, ob die Vaterschaft bereits feststehe oder nicht. Es stelle einen bedeutenden Eingriff in die Rechtssphäre eines Mannes dar, wenn die Wirkungen eines Kindesverhältnisses einträten, bevor die Vaterschaft überhaupt geklärt sei. Trotzdem sei die Auslegung der Vorinstanz nicht geradezu unhaltbar und damit nicht willkürlich, werde doch die von ihr vertretene Auslegung auch teilweise in der Lehre propagiert (E. 3.3). Damit hatte es aufgrund der Willkürkognition des Bundesgerichts bei vorsorglichen Massnahmen sein Bewenden.
Diskussionswürdig scheint, ob man eine willkürliche Auslegung bereits deswegen verneinen kann, weil sich die Auslegung auf Lehrmeinungen abstützen lässt. Sollte nicht vielmehr die Qualität der Lehrmeinungen entscheidend sein? Schliesslich kann sich auch eine Lehrmeinung als offensichtlich unhaltbar erweisen. Vorliegend sprechen gute Gründe dafür — und dies räumt auch das Bundesgericht ein — vorsorgliche Massnahmen vor Rechtshängigkeit einer selbständigen Unterhaltsklage zuzulassen. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Gesetzeshistorie von Art. 303 Abs. 1 ZPO lässt sich Gegenteiliges ableiten; auch ist das Erfordernis sachlich nicht begründbar. Insbesondere ist es stossend, ein Bedürfnis an vorsorglichem Rechtsschutz mit der Begründung zu verneinen, man könne Unterhalt für ein Jahr vor Klageanhebung fordern. Leben Unterhaltsberechtigte am oder unter dem Existenzminimum, sind sie auf sofortige Unterhaltszahlungen angewiesen, ansonsten sie in die Sozialhilfe und damit in eine Schuldenfalle gedrängt werden. Verlangt man bei Kindern unverheirateter Eltern für vorsorgliche Massnahmen, über die das Gericht im raschen summarischen Verfahren entscheidet, die vorgängige Rechtshängigkeit der selbständigen Unterhaltsklage mittels Schlichtungsgesuch oder Klage im vereinfachten Verfahren, benachteiligt man diese ohne sachlichen Grund gegenüber Kindern verheirateter Eltern. Deren Unterhaltsansprüche können im Rahmen eines Eheschutzverfahrens ohne Weiteres im summarischen Verfahren geltend gemacht werden.