4A_44/2019: Rechtshängigkeit bei fehlender sachlicher Zuständigkeit (amtl. Publ.)

Hin­ter­grund dieses Urteils war ein Gesuch des Beschw­erde­führers bei der Schlich­tungs­be­hörde Bern­er Jura-See­land betr­e­f­fend Anfech­tung eines Gen­er­alver­samm­lungs­beschlusses. Die Schlich­tungsstelle trat auf das Schlich­tungs­ge­such nicht ein, da das Han­dels­gericht sach­lich zuständig sei. Der Beschw­erde­führer focht diesen Entscheid nicht an, son­dern reichte innert der 30-tägi­gen Frist gemäss Art. 63 Abs. 1 ZPO Klage beim Han­dels­gericht Bern ein. Das Rechts­begehren entsprach jen­em im Schlich­tungs­ge­such. Der Beschw­erde­führer führte in der Klage ein­lei­t­end unter anderem aus, die Klage entspreche wort­gle­ich dem Schlich­tungs­ge­such. Sodann legte er der Klage eine Kopie des Schlich­tungs­ge­suchs bei. Nach­dem die Gerichtss­chreiberin den Beschw­erde­führer darauf hin­wies, dass gemäss BGE 141 III 481, E. 3.2.4. (auch auf Swiss­blawg), das Orig­i­nal der ersten Eingabe einzure­ichen sei, reichte der Beschw­erde­führer das Schlich­tungs­ge­such im Orig­i­nal mit Ein­gangsstem­pel und samt Beweis­mit­tel­dossier ein.

Das Han­dels­gericht wies die Klage ab. Es verneinte, dass der Beschw­erde­führer sich auf Art. 63 ZPO berufen könne. Nach der bun­des­gerichtlichen Recht­sprechung müsse die gle­iche Rechtss­chrift, die ursprünglich beim (unzuständi­gen) Gericht eingegeben wor­den sei, im Orig­i­nal samt Ein­gangsstem­pel neu ein­gere­icht wer­den. Dieser Anforderung sei der Beschw­erde­führer ver­spätet nachgekom­men (E. 2.2).

Das Bun­des­gericht rief zunächst seine in BGE 141 III 481, E. 3.2.4, gemacht­en Erwä­gun­gen in Erin­nerung. Danach set­ze die Rück­datierung der Recht­shängigkeit i.S.v. Art. 63 Abs. 1 ZPO voraus, dass der Ansprech­er die gle­iche Rechtss­chrift, die er ursprünglich bei einem unzuständi­gen Gericht eingegeben habe, im Orig­i­nal bei der von ihm für zuständig gehal­te­nen Behörde neu ein­re­iche. Darüber hin­aus ste­he es dem Ansprech­er frei, der neu ein­gere­icht­en Eingabe ein erk­lären­des Begleitschreiben beizufü­gen, das namentlich Aus­führun­gen darüber enthal­ten könne, dass zunächst eine unzuständi­ge Behörde angerufen wor­den sei und nun eine Neuein­rechung der Eingabe bei der für zuständig erachteten Instanz erfolge (E. 3.2).

Sodann prüfte das Bun­des­gericht die Anwen­dung dieser Recht­sprechung auf Schlich­tungs­ge­suche. Dabei stellte es fest, dass das vor­liegend ein­gere­ichte Schlich­tungs­ge­such nicht nur den Vor­gaben von Art. 202 ZPO genügte, son­dern vielmehr die geset­zlichen Anforderun­gen an eine beim Han­dels­gericht einzugebende Klageschrift (ins­beson­dere Art. 129 f. und Art. 221 ZPO) erfüllte. Jeden­falls auf diesen Fall sei die mit BGE 141 III 481 begrün­dete Recht­sprechung anzuwen­den (E. 3.5.1). Für die Rück­datierung der Recht­shängigkeit, so das Bun­des­gericht weit­er, gelte das Erforder­nis der gle­ichen, im Orig­i­nal einzure­ichen­den Rechtss­chrift, auch wenn eine Eingabe zunächst bei ein­er unzuständi­gen Schlich­tungs­be­hörde ein­gere­icht wor­den sei. Andern­falls werde eine kla­gende Partei bevorteilt, da sie – würde eine Änderung der Rechtss­chrift zuge­lassen – von den Vorzü­gen der Recht­shängigkeit prof­i­tieren würde, ohne die damit ver­bun­de­nen Las­ten zu tra­gen. Eine Anpas­sung der Eingabe im Laufe des Prozess­es sei in den Gren­zen der ZPO zuläs­sig (E. 3.5.2 f.). Ein Schlich­tungs­ge­such, welche sich auf den Min­des­tin­halt gemäss Art. 202 ZPO beschränke, werde es in der Regel die Erfordernisse an eine Klageschrift nicht erfüllen. Nur in einem solchen Fall würde sich die Frage stellen, ob dem neu angerufe­nen Gericht eine ergänzte Klageschrift vorgelegt wer­den dürfe, wobei im Auge zu behal­ten sei, dass Art. 63 ZPO nach der aus­drück­lichen bun­des­gerichtilchen Recht­sprechung auch bei sach­lich­er Unzuständigkeit anwend­bar sei (BGer 4A_592/2013, E. 3.2). Da das vor­liegende Schlich­tungs­ge­such den Anforderun­gen an eine Klageschrift genügte, liess das Bun­des­gericht diese Frage offen (E. 3.5.4).

Vor­liegend hob das Bun­des­gericht den Entscheid des Han­dels­gerichts wegen Ver­stoss gegen Art. 29 Abs. 1 BV auf­grund über­spitztem For­mal­is­mus auf. Es erwog, dass die in BGE 141 III 481 angestell­ten Über­legun­gen darauf grün­den wür­den, dass für die Beurteilung von Vorgän­gen, welche die Wahrung von Fris­ten bee­in­flussen wür­den, im Inter­esse der Rechtssicher­heit ein­fache und klare Grund­sätze aufzustellen seien. Es könne dem­nach nicht Auf­gabe des neu angerufe­nen Gerichts sein, die Klageschrift daraufhin zu unter­suchen, ob und in welchem Umfang sie sich von der zunächst ein­gere­icht­en Eingabe unter­schei­de und ob die Ver­schieden­heit der bei­den Eingaben ein Aus­mass erre­iche, das eine Rück­datierung der Recht­shängigkeit nicht mehr recht­fer­tige (E. 4.4). Dabei sei zu berück­sichti­gen, dass der Beschw­erde­führer beim Han­dels­gericht rechtzeit­ig eine Kopie seines Schlich­tungs­ge­suchs beigelegt habe. Da Schlich­tungs­ge­suche in der Regel sehr kurz seien, sei ohne Weit­eres erkennbar, ob die bei­den ein­gere­icht­en Ver­sio­nen iden­tisch seien. Eine solche Prü­fung wäre dem Han­dels­gericht auch im vor­liegen­den Fall ohne nen­nenswerten Aufwand möglich gewe­sen. Dass der Beschw­erde­führer eine Kopie und nicht das Orig­i­nal des Schlich­tungs­ge­suchs ein­gere­icht habe, schade unter diesen Umstän­den nicht; vielmehr hätte die Nachre­ichung des Orig­i­nals zuge­lassen wer­den müssen (E. 4.4).