9C_132/2021: Erwerbsersatz von Selbstständigerwerbenden; Covid-19 (amtl. Publ.)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 9C_132/2021 vom 15. Sep­tem­ber 2021 beurteilte das Bun­des­gericht den Anspruch ein­er selb­st­ständig erwer­ben­den Inhab­erin ein­er Arzt­prax­is für Tropen‑, Reise- und Hausarztmedi­zin (Beschw­erde­führerin) auf Erwerb­saus­fal­l­entschädi­gung im Zusam­men­hang mit den Mass­nah­men zur Bekämp­fung des Coro­n­avirus (Coro­na-Erwerb­ser­satz). Die Beschw­erde­führerin habe sich am 16. April 2020 bei der Aus­gle­ich­skasse medisu­isse (Beschw­erdegeg­ner­in) zum Bezug von Coro­na-Erwerb­ser­satz angemeldet mit der sin­ngemässen Begrün­dung, infolge der bun­desrätlichen Mass­nah­men sei ihr Umsatz im Bere­ich “Reisemedi­zin” um 100% und in der “Hausarztmedi­zin” auf aktuell 20% zurück­ge­gan­gen. Die zuständi­ge Aus­gle­ich­skasse habe den Anspruch abgelehnt, da Gesund­heit­sein­rich­tun­gen wie Arzt­prax­en nicht von den ange­ord­neten Betrieb­ss­chlies­sun­gen betrof­fen seien, was für einen Erwerb­ser­satz voraus­ge­set­zt sei. Dem­nach seien die Anspruchsvo­raus­set­zun­gen für eine Härte­fal­lleis­tung nicht erfüllt (E. A.).

Strit­tig sei indessen, so das Bun­des­gericht, ob die Vorin­stanz Bun­desrecht ver­let­zt habe, indem sie den Ein­spracheentscheid der Beschw­erdegeg­ner­in bestätigt habe, mit welchem das Gesuch um Coro­na-Erwerb­ser­satz abgelehnt wor­den war. Die Beschw­erde­führerin habe einen solchen Anspruch für den Zeitraum vom 17. März bis 27. April 2020 gel­tend gemacht, mithin für den Zeitraum, in welchem die ärztliche Tätigkeit im Rah­men der bun­desrätlichen Anord­nun­gen auf dringliche Ein­griffe beschränkt war (E. 3 mit weit­eren Hin­weisen zu den ange­ord­neten Mass­nah­men). Mit der Änderung der Mass­nah­men vom 16. April 2020 sei rück­wirk­end per 17. März 2020 Art. 2 Abs. 3bis der Covid-19-Verord­nung Erwerb­saus­fall in Kraft geset­zt wor­den, wonach Selb­st­ständi­ger­wer­bende anspruchs­berechtigt seien, die nicht unter Abs. 3 fall­en, wenn sie auf­grund der bun­desrätlichen Mass­nah­men einen Erwerb­saus­fall erlei­den und ihr für die Bemes­sung der AHV-Beiträge mass­geben­der Lohn für das Jahr 2019 zwis­chen CHF 10’000 und CHF 90’000 liege. Die Voraus­set­zung der oblig­a­torischen AHV-Ver­sicherung nach Art. 2 Abs. 1bis lit. c der Covid-19-Verord­nung Erwerb­saus­fall, gelte auch für diese Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den (E. 3.3).

Gemäss Bun­des­gericht sei unbe­strit­ten, dass die Beschw­erde­führerin ihre Arzt­prax­is ab dem 17. März 2020 mit Ein­schränkun­gen habe weit­er­führen kön­nen und im Jahr 2019 ein Einkomme von rund CHF 165’000 erwirtschaftet habe, weshalb sie wed­er die Voraus­set­zun­gen von Art. 2 Abs. 3 noch jene von Abs. 3bis Covid-19-Verord­nung Erwerb­saus­fall erfülle. Die Beschw­erde­führerin sei der Auf­fas­sung, sie sei gle­ich­wohl anspruchs­berechtigt, mit der Argu­men­ta­tion die Bes­tim­mungen zum Coro­na-Erwerb­ser­satz seien lück­en­haft, weil ihr Fall eines Teil­ver­bots, mithin die Beschränkung der Tätigkeit auf dringliche Ein­griffe, nicht geregelt sei (echte Lücke). Even­tu­aliter liege eine unechte Lücke vor, weil die Regelung nach Ansicht der Beschw­erde­führerin zu einem unbe­friedi­gen­den Ergeb­nis führe. Demge­genüber stelle das Bun­de­samt für Sozialver­sicherun­gen (BSV) auf den Stand­punkt ab, es beste­he wed­er eine echte noch eine unechte Lücke. (E. 4.1).

Die Vorin­stanz habe zutr­e­f­fend fest­gestellt, so das Bun­des­gericht, dass sich Art. 2 Abs. 3 und 3bis Covid-19-Verord­nung Erwerb­saus­fall auf jed­welche selb­st­ständi­ge Erwerb­stätigkeit beziehen wür­den, unab­hängig von der beru­flichen Branche und somit auch auf jene der Beschw­erde­führerin als selb­st­ständi­ge Ärztin. Nach Abs. 3 der genan­nten Bes­tim­mung hät­ten Selb­st­ständi­ger­wer­bende Anspruch auf Coro­na-Erwerb­ser­satz, die einen Erwerb­saus­fall infolge ange­ord­neter Betrieb­ss­chlies­sun­gen oder Ver­anstal­tungsver­boten erlei­den. Demge­genüber hät­ten Selb­st­ständi­ger­wer­bende, die nicht unter diese Bes­tim­mung von Abs. 3 fall­en nur Anspruch auf Coro­na-Erwerb­ser­satz, wenn im Jahr 2019 ein AHV-pflichtiges Erwerb­seinkom­men zwis­chen CHF 10’000 und CHF 90’000 erzielt wor­den sei. Somit unter­schei­de die Verord­nung zwis­chen direkt und indi­rekt betrof­fe­nen Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den, wobei Art. 2 Abs. 3bis Covid-19-Verord­nung Erwerb­saus­fall als Auf­fang­tatbe­stand konzip­iert sei. Somit könne vom Wort­laut her geschlossen wer­den, dass die Verord­nung den Coro­na-Erwerb­ser­satzanspruch für alle Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den regle (E. 4.3.1).

Die Unter­schei­dung der Anspruchs­berech­ti­gung von direkt und indi­rekt betrof­fe­nen Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den und die aus­drück­liche Beschränkung der (erst nachträglich über­haupt einge­führten) Anspruchs­berech­ti­gung auf Härte­fälle sowie in zeitlich­er Hin­sicht für bloss indi­rekt betrof­fe­nen Selb­st­ständi­ger­wer­bende erscheine als bewusster Entscheid des Verord­nungs­ge­bers, der keinen Raum für eine auszufül­lende Lücke lasse (E. 4.3.2.1). Somit zeige auch das his­torische Ele­ment keinen Hin­weis, dass eine dritte Kat­e­gorie von Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den überse­hen wor­den sei (E. 4.3.2.3).

Weit­er, so das Bun­des­gericht, sei der vor­liegend in Frage ste­hende Erwerb­saus­fall während rund sechs Wochen für einen Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den mit zuvor hohem Einkom­men in der Regel nicht exis­ten­zge­fährdend. Bei gutver­di­enen­den Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den dürfe davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass sie gewisse Reser­ven mit Blick auf übliche wirtschaftliche Schwankun­gen gebildet hät­ten und deshalb ini­tial nicht — zumin­d­est nicht akut — auf staatliche Hil­fe angewiesen seien. Andern­falls kön­nten sie einen Über­brück­ungskred­it beziehen, wom­it ihre beru­fliche Exis­tenz vor­erst sichergestellt sei. Auch länger­fristig erscheine die wirtschaftliche Exis­tenz dieser Selb­st­ständi­ger­wer­ben­den nicht gefährdet, mithin sei ihnen die Rück­zahlung der staatlichen Nothil­fe nach der Pan­demie wirtschaftlich zumut­bar, schliesslich deute ihr bish­er erziel­ter Lohn auf eine zukün­ftig hin­re­ichend hohe wirtschaftliche Leis­tungs­fähigkeit hin (E. 4.3.3). Somit liege auch keine unechte Lücke vor und es sei dem kan­tonalen Gericht zuzus­tim­men, dass der Bun­desrat den Anspruch auf Coro­na-Erwerb­ser­satz für Selb­st­ständi­ger­wer­bende abschliessend geregelt habe und (grund­sät­zlich) kein Raum für eine richter­liche Lück­en­fül­lung bleibe (E. 4.3.4).

Schliesslich beurteilte das Bun­des­gericht, ob diese Regelung gegen ver­fas­sungsmäs­sige Rechte der Beschw­erde­führerin ver­stosse, ins­beson­dere gegen die Rechts­gle­ich­heit, das Willkürver­bot und die Wirtschafts­frei­heit (E. 5). Dabei sei der hohen sach­lichen und zeitlichen Dringlichkeit der damals akuten Krisen­si­t­u­a­tion, welche rasche und sofort wirk­same Mass­nah­men erfordert habe, Rech­nung zu tra­gen (E. 5.3.2). Ent­ge­gen der Beschw­erde­führerin sei die unter­schiedliche Regelung für direkt und indi­rekt betrof­fene Selb­st­ständi­ger­wer­bende sach­lich gerecht­fer­tigt (E. 5.3.3). Eben­so sei die Begren­zung der Anspruchs­berech­ti­gung für indi­rekt betrof­fene Selb­st­ständi­ger­wer­bende auf eine gewisse Lohnspanne tauglich­es Mit­tel, um einen Härte­fall zu definieren. In Anlehnung an den Medi­an der Brut­tolöhne in der Schweiz von knapp CHF 80’000 basiere der Schwellen­wert somit auf objek­tiv nachvol­lziehbaren Über­legun­gen und sei eher grosszügig ange­set­zt (E. 5.3.4). Eben­so sei die Ungle­ich­be­hand­lung zwis­chen unselb­ständi­ger­wer­ben­den Ärzten in arbeit­ge­berähn­lich­er Stel­lung (mit Anspruch auf Kurzarbeit­sentschädi­gung im Rah­men ein­er Pauschale von CHF 3’320.-) und selb­st­ständi­ger­wer­ben­den Ärzten auf­grund der unter­schiedlichen Aus­gangslage sach­lich gerecht­fer­tigt, zumal Selb­st­ständi­ger­wer­bende zum Vorn­here­in vom Ver­sicherungss­chutz der Arbeit­slosen­ver­sicherung aus­geschlossen sei (E. 5.3.5). Ins­ge­samt liege somit wed­er eine Recht­sun­gle­ich­heit, geschweige denn Willkür vor (E. 5.3.6).

Im Hin­blick auf die Ein­schränkung der Wirtschafts­frei­heit hät­ten die Mass­nah­men, mithin zwis­chen dem 17. März und 26. April 2020 die Ein­schränkung der im Gesund­heitswe­sen täti­gen Per­so­n­en auf drin­gend angezeigte Ein­griffe, let­ztlich dem Schutz der Gesund­heit gedi­ent (E. 5.4.2). Par­al­lel zu den Ein­schränkun­gen seien Mass­nah­men zur Abfederung der wirtschaftlichen Fol­gen (auch für Selb­st­ständi­ger­wer­bende) ergrif­f­en wor­den und diese seien nicht wet­tbe­werb­srechtlich motiviert gewe­sen, son­dern hät­ten vielmehr Gewährleis­tung der wirtschaftlichen Sta­bil­ität mit­tels Nothil­fen und das wirtschaftliche Wohl des Lan­des in der Pan­demie bezweckt und somit einem zuläs­si­gen sozialpoli­tis­chen Ziel gedi­ent (E. 5.4.2). Auch im Hin­blick auf die Ein­schränkung der Anspruchs­berechtigten auf eine gewisse Lohnspanne sei der Ein­griff nicht unhalt­bar und ins­ge­samt über­wiege das öffentliche Inter­esse an ein­er zweck­mäs­si­gen sowie finanziell trag­baren Lösung, weshalb die Wirtschafts­frei­heit vor­liegend nicht ver­let­zt sei (E. 5.4.4 f.).